6816042-1973_09_14.jpg
Digital In Arbeit

Abschied von Urzidil

Werbung
Werbung
Werbung

Der Leser verzeihe, wenn ich ihn wieder einmal mit persönlichen Erinnerungen belästige, die sich diesmal mit Johannes Urzidil befassen. Ende Oktober 1970 hielt Urzidil eine Vorlesung aus eigenen Werken in Baden und ich wurde von den Veranstaltern gebeten, einige Worte der Einleitung und des Dankes zu sprechen. Ich pries Urzidil als den letzten der noch lebenden großen Prager Dichter. Mit ihm müßte man Abschied nehmen von dieser einmaligen Erscheinung in der deutschen Literatur. Er sei der letzte der berühmten „Johannesse“, welche Reihe mit dem Kanzler Karls IV., Johannes von Neumarkt, begann und über- Johannes von Saaz, den Dichter des Epos „Der Ackermann und der Tod“ zu Johannes Urzidil reichte. Der Dichter, und vor allen Dingen seine Frau, schienen mit meinen Worten sehr zufrieden zu sein und bedankten sich vielmals dafür. „Zu Weihnachten werde ich zu Hause sein“, verabschiedete sich Urzidil auf tschechisch von mir. Eine Woche nach diesem Vortrag hörte ich, daß er am 2. November, am Allerseelentag, in Rom an einem Herzschlag verstorben sei urtd uf dem-Friedhof der Deutschen inmitten vieler Dichter begraben worden sei. So war er schon lange vor Weihnachten „zu Hause“. Jetzt, nach seinem Tod, kam gleichsam als eine Art Denkmal ein Sammelband seiner böhmischen Erzählungen im Langen-Müller-Verlag in München unter dem Titel „Morgen fahre ichheim“ heraus. Noch einmal kann der Leser die große dichterische Kraft Johannes Urzidils an diesen Erzählungen erkennen und ermessen. Er wird in ihnen aber auch immer wieder an die großen Prager Dichter, die Zeitgenossen Urzidils waren, erinnert: an Werfel und Kafka, an Rilke, Brod und Meyrink. Es war eben die Stadt Prag, die für alle diese Dichter den Untergrund abgab, aus dem sie ihre Werke schufen.

Aber noch ein besonderes Charakteristikum leuchtet aus diesen Erzählungen Urzidils heraus. Durch sein Dasein zog sich, wie bei fast allen böhmischen Dichtern und allen böhmischen Menschen überhaupt das Leitmotiv des Abschieds: „Eines Tages“ schrieb einmal Urzidil, „wird man inne, daß etwas unsagbar Ernstes näher und näher kommt und in das Bewußtsein aufgenommen sein will. Eines Tages begreift man die Bedeutung der Abschiede.“ Und weiter schreib er: „Menschen geraten in fremde Länder. Dort ist Heimweh ihre Nahrung, Erinnerung ihre Stärke. Viele wiederum in der Heimat träumen zeitlebens von fremden Ländern und erst vor dem Hintergrund dieser Träume begreifen sie vollkommener ihre gegenwärtige Welt. Was sinnlich vor ihnen liegt, sehen sie am Rande ihres Traumes. Und es haben die Besten unter ihnen Heimweh mitten in der Heimat. Das ist ihre Stärke und ihre Nahrung. Inmitten der Ferne bin ich daheim.“ Mit diesen Worten bestätigt Urzidil nur eine These, die kurz vor seinem im Jahre 1968 erfolgten Tod der berühmte Prager Archäologe und Kunsthistoriker Prof. Dr. Josef Ci-bulka aufstellte: „Böhmische Existenz erfülle sich in der Emigration, entweder in der äußeren oder in der inneren.“ Mit seinem letzten Band hat Urzidil nicht nur seiner böhmischen Heimat ein Denkmal gesetzt, sondern auch dem tragischen Schicksal des böhmischen Menschen, ein Exulant zu sein, neuerlich Ausdruck Verliehen.

MORGEN FAHRE ICH HEIM. Böhmische Erzählungen. Von Johannes Urzidil. Mit einem Nachwort von Heinz Politzer. Verlag Albert Lan-gen-Georg Müller, München, Leinen. 503 Seiten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung