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„…warten auf die Sekunde X”

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Der Prager Dichter Rainer Maria Rilke hat, •us dem Urgrund des böhmischen Denkens heraus, die unnachahmliche Formulierung für Jenen Grundsatz gefunden, der seit einem Jahrtausend böhmisches Denken und böhmische Geschichte bis heute beherrscht und eben wieder die Erklärung dafür gibt, warum es in diesen unseren Tagen in Prag zu keinem Aufstand gekommen ist, sondern die Moldaurepublik völlige Ruhe bewahrt hat. „Wer spricht von Siegen”, heißt der Grundsatz, „überstehen ist •lies.’

Es ist die Lebensphilosophie eines kleinen, schwachen Volkes, das nicht von vielen Freunden umgeben ist. Ihr aber verdankt es dieses Volk, daß es durch ein Jahrtausend alle Katastrophen mit relativ geringen Verlusten überleben konnte, heute noch ein Dasein hat und nicht von den Mächtigen der Welt hinweggespült wurde. Herzog Wenzel, der Heilige, der Freimaurer Benesch, der konservative Katholik Hacha, sie alle huldigten diesem Grundsatz, ebenso wie die zahlreichen großen und kleinen Führer des Landes, die immer wieder auf jeden Kampf verzichteten, weil sie einen Sieg für ausgeschlossen hielten und der Nation zumindest die Existenz retten wollten.

Pfzemysl Ottokar II., der Rivale Rudolfs von Habsburg, ist einer der wenigen Herrscher des Landes, die sich nicht an diesen Grundsatz gehalten haben. Noch 1276, als er seine österreichischen Besitzungen räumte und Böhmen und Mähren als Lehen empfing, da handelte er nach diesem Gesetz „ . . . überstehen ist alles”. 1278 aber ging diesem König, der nur zu einem Viertel Tscheche war und von seiner Mutter, einer Hohenstaufin, deutsches, und von seiner Großmutter, einer Arpadin, madjarisches Blut in sich hatte, das tschechische Denken verloren. Er ließ sich auf einen Kampf auf „Siegen oder Sterben” ein. Das Ende dieses Kampfes war sein Tod und die „schreckliche Zeit” für Böhmen.

„ …überstehen ist alles.” Dieser Grundsatz hat nichts mit Feigheit zu tun. Denn der Tscheche ist kein schlechter Soldat. Wo das Kämpfen einen Sinn hat, da schlägt er sich und ist dann ein zäher Kämpfen, Die Geschichte der böhmischen Regimenter, die durch Jahrhunderte auf den Schlachtfeldern für die Donaumonarchie kämpften, ist ein Beweis dafür. Noch im ersten Weltkrieg war der Blutzoll der tschechischen Regimenter höher als jener der bosnischen, die doch mit Recht zu den besten Truppen der Monarchie gerechnet wurden. Der Tscheche ist auch taktisch nicht unbegabt. Zwei der bedeutendsten Heerführer des alten Reiches, einige der wenigen, die aus den Erbländern stammten und nicht, wie Prinz Eugen, Monte- cuccoli, Laudon, Daun, Haynau, Beck, Zugewanderte waren, kamen aus dem tschechischen Hochadel, nämlich Wallenstein und Radetzky.

Trotz Vorhandensein militärischer Begabungen und persönlichen Mutes wird sich der Tscheche nur schlagen, wenn das Kämpfen einen Sinn hat. Einen Sinn hat es für ihn nur dann, wenn mit der größten Wahrscheinlichkeit oder fast schon der Sicherheit eines Sieges zu rechnen ist. Der Parole „Siegen oder sterben” konnte diese Nation nie einen Geschmack abgewinnen und den Mythos, den manche Nationen, wie die Deutschen oder Polen, um den Soldatentod gebildet haben, lehnt sie ebenso ab wie den militärischen Grundsatz des „Stürmens, ohne Rücksicht auf Verluste” (hier ähnlich dem englischen Denken).

Wenn der Tscheche der Ueberzeugung ist, daß ein Kampf nicht mit einem Sieg beendet werden kann, dann fängt er den Kampf gar nicht erst an. Selbst auf die Gefahr hin, daß er dann der Gefangene in irgendeiner Form seines Gegners wird. Denn die Gefangenschaft kann man überstehen und „ … überstehen ist alles”.

Die Waffe, die der Tscheche gegen alle seine Unterdrücker, mögen sie aus den eigenen Reihen kommen odef Fremde sein, anwendet, war und ist immer die gleiche. Diese Waffe besteht im Wartenkönnen. Wartenkönnen nicht auf den Tag X und nicht auf die Stunde X und nicht auf die Minute X, sondern auf die Sekunde X.

Warten können auf die Sekunde X, die für jeden Götzen, jeden Tyrannen einmal kommen muß. Denn jeder Götze, jeder Diktator, jeder Gegner stürzt über kurz oder lang. Er stürzt, weil er stirbt oder weil er Gegner hat, die ihn beseitigen, oder weil er Fehlgriffe macht, über die er selber stürzt. Denn je unkontrollierter eine Macht ist — und Tyrannen aller Schattierungen lieben keine Kontrolle ihrer Macht desto mehr Fehlgriffe begeht sie. Und auf diese Fehlgriffe gilt es zu warten, zu warten, zu warten. Ihr Kommen gilt es nicht zu verhindern, und dann gilt es, wenn sie sich einstellen, sie vielleicht durch einen leisen, kaum sichtbaren Druck zu verstärken.

Alle Gewaltregime haben diese Handlungsweise immer wieder als Sabotage bezeichnet. Der Tscheche denkt anders; für ihn ist jedes Gewaltregime schon eine Sabotage an seiner menschlichen Existenz, und jede Handlung, die diese Sabotage vermindert und Raum für ein kleines Stück menschliche Freiheit schafft, wird er für gerechtfertigt ansehen.

Der Tscheche wird ich ansonst, soweit wie möglich, auch gegen seine Unterdrücker loyal verhalten. Schon aus dem einen Grund, um keinen Angriffspunkt zu bieten. Und er wird durch einen immensen Heiß sich so notwendig machen, daß der Gegner, der ihn beherrscht, notgedrungen einen wenn auch kleinen Raum der Freiheit zugestehen muß, da er ohne diese Arbeitskraft nur schwer existieren kann.

Auf die Barrikaden aber steigen wird der Tscheche nur selten, fast nie, höchstens dann, wenn er auch hier die Gewißheit hat, daß er nicht vor der Alternative „Siegen oder sterben” steht. Volksaufstände hat es deshalb, mit Ausnahme der Hussitenzeit, in Böhmen nie gegeben, während sie in der madjarischen und polnischen Geschichte an der Tagesordnung waren und sind. Und Barrikaden in Prag — dies zeigen der Pfingstaufstand 1848 und der Maiaufstand 1945 — hat es nur dann gegeben, wenn sie an anderen Orten der Welt chon wieder abgeräumt wurden. Barrikaden in Prag haben fast nur symbolischen Wert, sie sind ein Zeichen, daß sie bereits überflüssig sind. Wäre es während des ungarischen Aufstandes zur Errichtung auch nur einer Barrikade in Böhmen gekommen, dann wäre dies ein Zeichen gewesen, daß der Aufstand in Ungarn gelungen war.

Bremse, die ihn von jedem Kampf, dessen Sieg nicht handgreiflich vor ihm liegt, abhält. Das Ungemach, das er vielleicht im Gefolge des Ausweichens auf sich zukommen sieht, wird er auf sich nehmen, denn er kennt seine Waffe und kann warten, um alles zu überstehen und „ … überstehen ist alles”. („Nimm es leicht”, sagt der Engländer, auch hier in seinem Denken dem tschechischen Denken verwandt.)

Die Frage, warum die Tschechen, als Ungarn und Polen auf die Barrikaden stiegen, nicht ebenfalls zu den Waffen griffen, beantwortet sich damit von selbst. Der nüchterne tschechische Verstand hat es für ausgeschlossen gehalten, daß eine kleine Nation wie die tschechische sich gegen die russische Armee, die weder ein Napoleon noch ein Hitler zu besiegen vermochte, auf die Dauer siegreich behaupten könne. Der Katastrophenkomplex hat dem tschechischen Denken gleichzeitig schaurige Visionen über die Folgen eines derartig verlorenen Aufstandes vorgegaukelt, die nur iü einer furchtbaren Schwächung der Lebenskraft der Nation bestehen können.

Welchen Zweck — so fragte man sich — hätte ein Aufstand in der Tschechslowakei gehabt? Seit zehn Jahren gibt es keine russischen Truppen mehr in der Moldaurepublik. Eine überhastete Industrialisierung und damit eine Senkung des Lebensstandards waren zum Unterschied von Polen und Ungarn nicht nötig, denn schon zur österreichischen Zeit waren die böhmischen Länder hochindustrialisiert. Die Kolchosierung, die in den Ostblockstaaten vielfach so böses Blut machte, wurde teilweise in eine Art Vergenossenschaftung abgebogen. Der Tscheche, der in letzter Zeit in den Ostblockstaaten reiste — und Reisen auch zu Vergnügungszwecken sind möglich —, konnte feststellen, daß sein Land wirtschaftlich den anderen Ostblockstaaten voraus ist. Dies alles sagt nicht, daß etwa der Großteil des tschechischen und slowakischen Volkes zu dem heutigen Regime steht. Ja es schließt auch nicht aus, daß man vielerorts mit dem Heldenkampf der Ungarn sympathisierte. Es zeigt nur, daß es dem Volk der Republik, ohne auf die Barrikaden zu steigen und ohne blutige Verluste, mit seinen alten Mitteln gelungen ist, doch einige nicht unbedeutende Erfolge gegen das Regime zu erringen und dem einzelnen Menschen wie auch der Nation einen schmalen Raum des Atmenkönnens zu erobern, der es ihnen ermöglicht zu warten.

Und so gilt es zu warten. Zu warten, zu waT- ten, zu warten. Auf die Sekunde X. .Auf die Sekunde, da wieder die Gerechtigkeit ihren Sieg erringen wird. Es gibt viele solche Sekunden. Sie kommen immer wieder. Es gilt zu warten und zu überstehen. „Wer spricht von Siegen, überstehen ist alles.”

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