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Briefe AN DEN HERAUSGEBER DER „FURCHE“

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Sehr geehrter Herr Herausgeber!

Der Artikel von Christoph Stolz in der „Furche“ vom 29. März scheint mir einer Ergänzung zu bedürfen — zumal vom böhmischen Standpunkt. Man könnte ihn nämlich so verstehen, als ob die Haltung des Kaisers Karl im Oktober 1918 zwar christlich edel, aber politisch unklug gewesen wäre; als ob er besser getan hätte, seine Hoheitsrechte bis zuletzt mit der Waffe durchzusetzen. Das könnte nicht unwidersprochen bleiben. So wie es heute allerdings klar ist, daß man den Völkern besser gedient hätte, wenn man vorher die Friedensabsichten des Kaisers angenommen hätte, so ist es doch auch klar, daß im Oktober 1918 die Entwicklung in den böhmischen Ländern durch keinen Eingriff a la Windischgrätz hätte aufgehalten werden können. Was aber hat Kaiser Karl durch seine Anordnungen erreicht? Er hat erreicht, daß in Prag buchstäblich kein Tropfen Blutes vergossen wurde. Eben dadurch wurde ermöglicht, daß die Tschechoslowakische Republik zwanzig Jahrd ein Rechtsstaat blieb, in dem österreichische Gesetzbücher galten. Diese haben übrigens Böhmen mit seiner eigenen Geschichte verknüpft — denn das Bürgerliche Gesetzbuch trug ja die Kontrasignatur des „königlich böhmischen Obers en und österreichischen Ersten Kanzlers“. Es wurde erreicht, daß die Bitterkeit, welche gegen Kaiser Franz Joseph zurückgeblieben war und sich — siehe „Svejk“ — in diversen Trivialitäten äußerte, auf seinen Nachfolger nicht übergegangen war. Den Mann, der Kaiser Karls Andenken beschimpft hä te, mußte man in Böhmen mit der Laierne suchen — und fand ihn allenfalls bei Hen- lein.

Peccatores autem non sic — oder wenn ich den unübertrefflichen Lakonismus des Psalmisten umschreiben darf: die Unchristen haben es allerdings ganz anders angefangen. Da sollte in Prag noch eine Woche nach des Führers Tod die nationalsozialistische Ordnung auf rechterhalten werden — und wenn nicht, so sollte „das ganze Nest brennen“. Verbrannt hat man dann die SS-Männer auf den Kandelabern — und wie man danach die Völker versöhnen soll, das mag man wohl fragen. Da leuchtdt einem gewiß ein, daß Kaiser Karl wußte, was er tat. Zwar ist nicht zu leugnen, daß man bei Besprechung seiner Person bald von unseren drei Dimensionen in die vierte, in die unberechenbare Metaphysik, hineinkommt. Er hat auf seinem Sterbebett für die Wiedergutmachung der Häresie in Böhmen gebetet: dreißig Jahre nachher ist die tschechoslowakische Kirche in den Augen ganz Böhmens moralisch tot, und nur an die Kirche des heiligen Wenzel glaubt das Volk. Das, zugegeben, sind Tatsachen, die über der Berechnung s’ehen…

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