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Vom zeitlos osterreichischen

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FRANZ GRILLPARZER, DICHTUNG UND Von Gerhart Bluuann. Athenäum-Verlag DM 86.80.

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FRANZ GRILLPARZER, DICHTUNG UND Von Gerhart Bluuann. Athenäum-Verlag DM 86.80.

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Das Buch ist eine um ein paar neue Seiten und zwei größere Abschnitte erweiterte Neuauflage jenes Werkes, das zuerst in Freiburg i. B. 1954 erschienen ist. Es ist um ein Literaturverzeichnis unter dem Titel „Nachweise“ und eine Liste „Schlüsselbegriffe“ vermehrt. Man vermißt aber vor allem alle zusammenfassenden Darstellungen österreichischer Literatur von Nagl-Zeidler-Castle, J. Nadler usw. Gerade aus Nadler, von dem nur das Buch über Grillparzer genannt wird, hätte Baumann für sein Thema manches entnehmen können. Denn er hält an seiner ursprünglichen These fest, zwischen Grillparzer und dem Kreis von „Jung-Wien“ um 1890 Zusammenhänge nachzuweisen, die sicher vielfach richtig und fein beobachtet sind. Aber darf man das als „österreichische Geistesverfassung“ ohne Einschränkung bezeichnen? Überhaupt: ist es nicht bedenklich, einen zeitlich und räumlich umschriebenen Kreis mit Österreich zu identifizieren? Wozu noch die weitere Frage kommt, worauf die beobachteten Züge zurückgeführt werden können. Baumann selber spricht gelegentlich von „Spätzeit“, „Spätgeborenen“ und berührt damit vielleicht Wesentlicheres als mit dem „österreicher-tum“, das in dieser Verallgemeinerung nicht gültig ist. Denn — es muß immer wieder für Fernstehende gesagt werden: Wien ist nicht identisch mit Österreich, die Alpenländer zeigen eine von Wien vielfach unabhängige eigenständige Entwicklung, die sich zuweilen geradezu gegen Wien wendet. Baumann gewinnt sein Bild der österreichischen Geistesverfassung aus Äußerungen von Dichtern und Schriftstellern, hauptsächlich des Kreises um Hof-männsthal, wendet es auf Grillparzer an und bewegt sich so bis zu einem gewissen Grade in einem Zirkel. Kann es überhaupt gelingen, österreichisches Wesen auf eine glatte Formel zu bringen, wenn man nur etwa die Unterschiede zwischen West und Ost ins Auge faßt, wobei natürlich das Übergewicht Wiens zugegeben werden muß. Doch soll hier die österreichkontroverse nicht nochmals aufgerollt werden, bei der so viel bewußt irreführend dargelegt und durcheinandergemengt und einer vorgefaßten Ansicht zuliebe entstellt wurde. Dazu tritt nun aber noch als zweites Moment die stark neurotische Veranlagung Grillparzers und Hofmannsthals usw., die ebenfalls kaum österreichisch bedingt genannt werden ' kann. Somit erscheint Baumanns Bild des Österreichers viel zu eng und zu zeitbedingt. Zumindest in der Neuauflage hätte daher auch eine Gegenstimme herangezogen werden müssen, wie Claudio Magris Buch „II mito absburgico nella lettaratture austriaca moderna“ (Torino, 1963, deutsch: Salzburg, 1966). Mit Menschen, wie sie sich aus dieser Perspektive einer Spätzeit ergeben, hätte Österreich weder die Reformation noch die Gegenreformation, die Kämpfe gegen die Türken oder gegen Napoleon durchführen können. Bei Baumann handelt es sich eindeutig um Angehörige einer Oberschicht, die allein wohl kaum ein richtiges Bild abzugeben vermögen. Neben Grillparzer müßten eben auch viel mehr andere Vertreter seiner Zeit herangezogen werden, jener Epoche, die man, nicht ganz glücklich, mit der Etikette „Biedermeier“ versehen hat und die nur sehr gelegentlich zum „Eideshelfer“ aufgerufen wird. In diesem Zusammenhang einer Spätzeit war dann wohl auch die Frage des

ÖSTERREICHSCHE GEISTESVERFASSUNG, i Frankfurt am Main, Bonn, 1986. 307 Seiten.

Selbstmordes nicht zu umgehen, die aber bei Baumann nicht einmal gestreift wird.Das Geschichtliche ist die schwache Seite des sonst sicher aufschlußreichen und vielfach Neues bietenden Buches, das ja in der neueren Grillparzer-Literatur bereits einen festen Platz einnimmt. Es handelt sich natürlich um keine chronologische Darstellung, sondern Baumann ist um ein „Wesensbdld“ im Sinne St. Georges, Gundolfs, Ernst Bert-rams bemüht, wie sich schon aus den Kapitelüberschriften ergibt. Aber: gibt es ein „zeitlos österreichisches“ (S. 8), ein überzeitlich österreichisches? Ist das nicht eine Konstruktion, ein Wunschbild, und gelten nicht auch für solche Betrachtungen Jakob Burckhardts Warnungen vor den „terribles simplifica-teurs“? — Der Stil der Andeutung, wie ihn Baumann übt, bedeutet ebenfalls eine Gefahr, Unklarheit, Mehrdeutigkeit, Verschwommenheit. Überhaupt liest sich das Buch wohl schön und anregend, es erscheint aber zu wenig profiliert, zu wenig scharf umrissen, Baumann packt die Dinge zu wenig kräftig an, und so vermißt man vielfach die Abgrenzung; die Dinge gehen ineinander über, es ist der Stil des Esseys, anspielungsreich, schwebend, dabei subtil, gewandt und anschmiegsam, aber auch wortreich. Behauptungen werden vielfach nur mitgeteilt, ohne daß dem Leser die Möglichkeit zur Überprüfung geboten, der Beweis, der Nachweis erbracht wird. Zusammenstellungen frappieren zuweilen (Seite 191 Raimund-Anzengruber, Rodenbach-Rilke, Schnitzler-Musil, Werfel-Ginzkey). Es wird dem Leser überlassen, daraus den Schluß zu ziehen. Überraschende Entgegenstellungen stören da oft: S. 23: Grillparzer verfehlt seine Dichtung, wenn er in eigenem Namen spricht; er kommt ihr näher, wenn er von den attischen und spanischen Dramatikern handelt, oder S. 23: „Seine Existenz beglaubigt er vor sich, indem er sie verleugnet.“ Solche orakelhafte Sprüche tun sicher ihre Wirkung, aber für die Wissenschaft sind sie sehr bedenklich, und man sollte sie unbedingt vermeiden. So müßte vieles, was behauptet wird, näher dargelegt werden, weil es doch nicht Aufgabe des Lesers sein kann, die Meinung des Autors zu erraten, wobei er schließlich nicht weiß, ob et richtig geraten hat: S. 29: „...schmerzliches Gesetz, das Stifter gegenüber einem vorletzten Gesetz rechtfertigt“ (Druckfehler?, aber in der ersten Auflage, S. 19, ebenso!).

Auf die feinen, klugen, tiefgreifenden Erkenntnisse Baumanns hier einzugehen, ist leider nicht möglich. Aber jeder wird das Buch mit Gewinn lesen, wenngleich es durch die schwebende Art der Darstellung nicht leicht lesbar ist.

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