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Zeugen am Konferenztisch

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Wenn in der Politik Gemütsregungen einen erlaubten Platz hätten, dann könnte man sagen, daß für den Österreicher etwas Rührendes der Wahrnehmung innewohnt, Australien und Südafrika, Staaten, die unser Land niemals durch Leistungen zu Dank verpflichten konnte, mit denen es nicht einmal durch nennenswerte wirtschaftliche Verbindungen verknüpft ist, als kräftige Anwälte für Österreichs Unabhängigkeit und Freiheit auftreten zu sehen. Mitunter erleichtert offenbar die Distanz, das Nicht-Verwickeltsein in die ewigen Gegensätzlichkeiten nationaler Grenzen die Unbefangenheit des Urteils und schärft das Gehör für die großen Tatsachen der Geschichte, deren gebieterische Stimme derjenige allzu leicht mißversteht, der sich von leidenschaftlichem Parteigeist beirren läßt.

Nicht einmal 30 Jahre sind seit dem Abschluß des ersten Weltkrieges durch die Pariser Friedensverträge vergangen. Das Unglück, das diesen Verträgen entsprang, die verhängnisvolle Verkehrung eines Friedenswerkes in sein Gegenteil, ist seitdem in den schwerbezahlten politischen Erkenntnisschatz der Menschheit eingegangen. Seine Zeugen stehen heute unsichtbar und dennoch vernehmlich vor den Konferenztischen der in London versammelten Staatsvertreter und Diplomaten. Niemand wird ihre Autorität leugnen können..

In seiner Schrift -,Qu'est-ce que qu'un Francais“ berichtet Wladimir d'Ormesson von eir,er Unterredung rait Briand, dem elfmaligen Ministerpräsidenten Frankreichs, in der dieser seine Ideen über die Notwendigkeit, „coüte que coüte“ — koste es, was es wolle —, die Unabhängigkeit Österreichs zu sichern, aussprach und fortfuhr: „Der Friede ist schlecht gemacht worden. Man hat jetzt (in bezug auf Österreich. „Die Furche“) einen abstrakten Frieden hergestellt, der abwechselnd der Geographie spottet oder sich um sie nicht kümmert. Man hat nicht zuvor auf die moralischen Kräfte Bedacht genommen, die im Leben der Völker eine Rolle spielen. Der Anschluß muß um jeden Preis verhindert werden, denn die Vereinigung von acht Millionen Österreichern mit dem Reich würde — un desequilibre mortel — eine tödliche Gleichgewichtrstörung für Europa darstellen.“ — Diese Erkenntnis vermochte die praktische Politik nicht zu befruchten. Es durfte sich aber nicht darum handeln, den Anschluß mit polizeilichen Verboten verhindern zu wollen, deren Durchführbrrkeit von politischen Konstellationen abhängen mußte, sondern darum, daß Österreich, aus seinem bisherigen Lebensraum durch die Zertrümmerung der Donaumonarchie herausgeschleudert, die Möglichkeit erhalte, aus innerer Kraft seine neue Daseimsform als kleiner, unabhängiger Staat im Herzen Mitteleuropas aufzubauen. So lange der Völkerbundgedanke lebendig blieb, erweckte die Entwicklung Hoffnungen; als die Steuerung der internationalen Angelegenheiten an die Initiative der einzelnen Mächte zurückfiel, begannen die bitteren Enttäiusdmngen. Aus klarer Einsicht, wie gefährlich diese Entwicklung sich gestalte, schrieb damals noch der französische Parlamentarier Pezet sein ausgezeichnetes Buch: „L'Autriche et la Paix“, in dem er die wichtige Pfeilerstellung Österreichs als Träger europäischer Friedensordnung auseinandersetzte. Er stand nicht allein, er konnte sich auf Maurice Pernot berufen, der händeringend nach dem ersten Weltkrieg hinausgerufen hatte: „Die Mächte, die auf Ge-wehrschußentfernung von Deutschland diese kleine deutschsprachige Republik gegründet haben, ohne Verteidigungsmöglich-keiten, fast ohne Lebensrrölichkeiten — haben es diese Mächte nicht gleichzeitig übernommen, über sie zu wachen und sie zu beschützen? Sollten sie der Annahme

sein, die sie mit einigen Demarchen, durch ihre Unterschrift unter ein paar Verträge oder vielleicht durch das Opfer von einigen hundert Millionen ihre Verpflichtung erfüllt haben werden, so sind sie einer schweren Enttäuschung unterlegen.“ — Nicht anders hatte die Dinge Anatole de Monzie gesehen und nicht anders Painlev£, der Staatsmann des Locarnovertrages, der noch die Machtergreifung Hitlers erlebte und neun Monate später, wenige Tage vor seinem Tode, das bedeutungsschwere Wort seinen Zeitgenossen hinterließ: „Österreich ist ein geistigerRaum, der nicht ausgelöscht werden darf. Die Unabhängigkeit Österreichs ist ein Garant für die europäische Ordnun g.“

Aber die Worte verhallten. Die Stresa-Deklaration vom Sommer 1934, die neue Bürgschaftserklärung für die Unabhängigkeit Österreichs, feierlich zum Schutze des europäischen Friedens beschlossen zwischen England, Frankreich und Italien, blieb nur ein kurzlebiges Bekenntnis zu ihrer Wahrheit. Vier Jahre später hatten die europäischen Großmächte mit Hitler in Berchtesgaden und München und Godesberg paktiert und ihm Österreich und in unvermeidlicher Konsequenz auch die Tschechoslowakei überliefert. Der blutige Hexensabbat begann ...

Vielleicht gibt es noch eine entschuldigende Erklärung dafür, daß die Erkenntnisse erfahrener Staatsmänner die Fehlgänge europäischer Politik nicht verhindern konnten und abermals die Propheten in ihrem Vaterlande nichts galten. Aber nun, da an die Stelle der Warnung und der seherischen Voraussage die furchtbare Realität ihrer Erfüllung getreten ist und. die Lavaströme der entfesselten Unterwelt Millionen von Menschen verschlungen und die Kultur riesiger Ländergebiete versengt haben, heute, da die Wahrheit mit einer in hundert Jahren noch nicht erloschenen Ruinenschrift der Zerstörungen quer über das Festland hin eingegraben ist, heute kann es nicht geschehen, daß man aus dem gleichen Fehler ein neues Unheil nicht nur für uns — für alle vorbereitet.

Die heftigen Gegenreden wider Österreich, die von dieser und jener Seite in London hörbar werden, beweisen, wie stark noch gewalttätige Instinkte und be-

drohliche Begehrlichkeiten nachtoben und wie labil noch der bisher erreichte Ruhezustand nach dem Kriege ist. Nicht diese unruhigen Elemente sind zu ermuntern, sondern diejenigen, die für sich nichts wollen als Frieden und gesichertes Recht. Der bisherige Gewinn der Londoner Tagung-ist eine zuversiditliche Erwartung: Diejenigen, die sich an den Gedanken, daß die Menschheit nach Frieden und Ordnung verlange, noch nicht zu gewöhnen vermochten, werden nicht siegen! f.

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