Das Glück gehört der GEMEINSCHAFT

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Das "Gute Leben" aus den Anden baut auf einen ganz anderen "Wohlstand" - und findet auch in hiesigen Debatten Beachtung. Was könnte es für uns bedeuten?

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Das "Gute Leben" aus den Anden baut auf einen ganz anderen "Wohlstand" - und findet auch in hiesigen Debatten Beachtung. Was könnte es für uns bedeuten?

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Wir steigern das Bruttosozialglück", "Einfach ein gutes Leben" oder "Immer mehr ist nicht genug", so etwa lauten die Titel von Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt in den letzten Jahren. Die Wachstumsund Fortschrittsverdrossenheit vieler Menschen hierzulande lässt sie Ausschau halten nach Alternativen zum gängigen Wirtschafts- und Wohlstandsmodell. Einige schwören auf die Gemeinwohl-Ökonomie und andere meinen, bei dem aus den Anden Südamerikas stammenden Begriff des "Guten Lebens" oder Buen Vivir fündig geworden zu sein.

Dabei richtet sich die Gemeinwohl-Ökonomie mehr auf die sozio-ökologische Bewirtschaftung von Gütern, die nicht dem privaten Eigentum vorbehalten sind: Land, Bodenschätze, Wasser und Luft, aber auch Dienstleistungen wie Information. Das andine Ideal des "Guten Lebens" hingegen beinhaltet eine ganze Weltanschauung und Spiritualität, die weit über die Frage des Wirtschaftens und des Umweltschutzes hinausgeht. Beiden Ansätzen gemeinsam ist aber eine Fundamentalkritik am kapitalistischen Wirtschafts- und Wachstumsmodell.

Jenseits des Individualismus

Doña Flora besitzt einen kleinen Marktstand in einer kleinen Nebengasse des riesigen Mercado Rodríguez in der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Dort breitet sie auf einem schmuddeligen Tuch die letzte Ernte von Orangen aus ihrem Anwesen in den Yungas, den subtropischen Tälern unweit der Metropole, aus. Da ich gerade mit einer Gruppe Jugendlicher ein mehrtägiges Trekking auf dem alten Inka-Weg Takesi plane, brauche ich eine ansehnliche Menge von Orangen. Doña Flora runzelt besorgt die Stirn, als ich ihr zu erkennen gebe, dass ich ihr den gesamten Bestand Orangen abkaufen möchte. Sie sortiert langsam und vorsichtig etwa zwei Drittel der angebotenen Früchte aus und steckt sie in Jutesäcke. Auf mein Andringen, auch den Rest einzupacken, schüttelt sie nur den Kopf.

Was für die neoliberale Marktlogik als "verrückt" oder zumindest ganz und gar nicht unternehmerisch erscheinen mag, hat in der Logik der andinen Bevölkerung aber ihre Berechtigung. Das Geld ist eine noch relativ junge Errungenschaft, und viele Leute vom Land trauen den Scheinen und Münzen nicht wirklich, da man diese ja "nicht essen könne". In einer Welt, die von extremen Klimabedingungen und großen Ertragsschwankungen gekennzeichnet ist, vermag es nicht zu erstaunen, dass nicht alles "käuflich" ist und man zur Absicherung immer einen Restbestand als "Risikogarantie" zurückbehält.

Zudem wäre Doña Flora von einem Augenblick auf den anderen "arbeitslos" und könnte ihre Stammkunden nicht mehr bedienen, die früher oder später an ihrem Stand vorbeikommen werden. Beziehungen unter Menschen und das Gleichgewicht von Geben und Nehmen werden dann eben wichtiger als die Möglichkeit, einem unerfahrenen "Gringo" die gesamte Ernte zu einem zudem überrissenen Preis zu verkaufen.

Das andine "Gute Leben" ist mit westlichen Kategorien nur schwer zu verstehen. Es hat jedenfalls nichts mit dem "Dolce Far Niente" oder einem Leben im Überfluss zu tun, ist aber auch nicht durch wirtschaftliche oder finanzielle Kategorien zu erfassen. Es ist ein "Gutes Zusammenleben" und übersteigt deshalb den Glücksindividualismus, wie er sich im Zuge der Konsumerweiterung der letzten fünfzig Jahre in Europa und Nordamerika immer extremer herausgebildet hat.

Für andines Empfinden kann es gerade kein "Gutes Leben" geben, wenn es anderen schlecht geht. Aber es geht auch nicht nur um die Menschheit, sondern um den gesamten Kosmos, um die Ahnen, die Geistwelt, Tiere und Pflanzen, Göttliches und Menschliches. Für andines Denken besitzt alles irgendwie "Leben". Deshalb bedeutet das "Gute Zusammenleben" ein Leben im Gleichgewicht mit der kosmischen Ordnung, also eine zutiefst spirituelle Haltung.

Im Einklang mit der Natur

Das andine Zeitverständnis ist zyklisch, geht also nicht von einer linearen Entwicklung aus, die sich von einem Anfang (Alpha) bis zu einem Ende (Omega) bewegt, wie das in der jüdisch-christlichen Tradition der Fall ist. Europäisches Denken ist auf Fortschritt und Zukunftsorientierung gebaut, andines Denken dagegen auf Harmonie und Vergangenheitsorientierung. Auf Aymara, einer indigenen Sprache in Bolivien, sagt man: "Den Blick auf die Vergangenheit gerichtet, schreiten wir rückwärts in die Zukunft". Das Neue liegt also nicht unbedingt "vor" uns, und "Fortschritt" ist für andines Denken oft ein Rückschritt, wie der Klimawandel und die Zivilisationskrankheiten im Westen zeigen. Die Orientierung an bewährten Weisheiten, wie eben auch das "Gute Leben", gilt als wahrer "Fortschritt" beziehungsweise als lebensdienlich.

Natürlich hat das Buen Vivir auch wirtschaftliche, politische und soziale Dimensionen. In den beiden neuen Staatsverfassungen von Ecuador (2008) und Bolivien (2009) nimmt es einen wichtigen Platz ein.

Dabei geht es auch um die Anerkennung der Natur und Mutter Erde als Rechtssubjekt und der kulturellen und spirituellen Identität der Völker als Menschenrecht. Das "Gute Leben" hat eine Wirtschaftsordnung zur Folge, bei der nicht die Gewinnmaximierung oder Produktionssteigerung an sich im Vordergrund stehen, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse im Einklang mit der Natur.

Der andine Mensch ist sich bewusst, dass die Erde endlich und begrenzt ist und dass ein "unbegrenztes Wachstum" und steter Fortschritt deshalb eine fatale Absurdität darstellen. Wenn es jemandem "besser" geht, wird es in einem System der kommunizierenden Gefäße - und dies ist der Kosmos nach andiner Vorstellung - jemand anderem unweigerlich schlechter gehen.

"Beziehung statt Besitz"

Ist das andine "Gute Leben" also eine Alternative zum westlichen Fortschrittsmodell? Die Meinungen gehen hier weit auseinander. Gemeinsam aber ist allen, dass das Buen Vivir nicht mit einem Wirtschaftsmodell vereinbar ist, das den Planeten plündert und nur aufgrund von stetigem Wachstum Bestand hat - und noch viel weniger mit einem völlig aus den Fugen geratenen Casino-Kapitalismus. Das andine "Gute Leben" erinnert daran, dass der eigentliche Sinn und Zweck des Wirtschaftens die harmonische Gestaltung des "kosmischen Hauses" ist, in dem alle "gut" leben können, die Menschen und die Natur und alle Generationen.

Das andine Ideal trifft sich in Vielem mit hiesigen Ansätzen, wie die Degrowth-Bewegung, Tauschnetze oder Gemeinwohl-Ökonomie. Diesen Ansätzen gemeinsam ist die Abkehr von der Konsumorientierung und dem Raubbau am Planeten. Heute gibt es -etwa im Weltsozialforum -ein globales Netzwerk dieser alternativen Gesellschaftsmodelle, das immer stärker auch in hiesigen Debatten eine Rolle spielt.

Um zu verstehen, warum Doña Flora mir nicht alle Orangen verkaufen wollte, müssen wir Abschied von der vorherrschenden Marktlogik nehmen und den "Beziehungswert" und die spirituelle Dimension von sogenannten Waren und Konsumgütern zu erfassen versuchen. Das ist wohl der erste Schritt hin zu einem "Guten Leben". Was für uns bedeuten könnte: "Weniger ist mehr" oder auch: "Beziehung statt Besitz".

Der Autor, Theologe und Philosoph ist u. a. Bildungsleiter des RomeroHauses in Luzern

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