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Atomkraft, Gentechnologie, Tunnelbau: Wie man Gefahrenquellen aufspürt, um erkannte Risiken zu vermindern.

Atomkraftwerke sind betriebssicher, erdbebensicher, bombensicher und überhaupt sicher. Sie sichern unsere Stromversorgung. Das versichern uns jedenfalls entsprechend motivierte Atom-Kernexperten - nur die Versicherungen versichern sie nicht, weil das Risiko unkalkulierbar ist.

Gentechnologie eröffnet uns ungeahnte Sicherheiten bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten, sie werden uns das Essen, die Gesundheit und die Jugend sichern. Das wiederum versichern uns noch entsprechender motivierte Zell-Kernexperten - nur wir uneinsichtige Normalverbraucher haben Angst vor dem Risiko, das noch viel unkalkulierbarer ist.

Als ob alles machbar wäre

Mit dem Erfolg technischer Machbarkeit sind unsere Vorstellungen von "Sicherheit" enorm gestiegen. Die Menschen früherer Jahrhunderte fühlten sich dem Schicksal ausgeliefert und der Glaube an Gottes Vorsehung wurde nicht nur aus persönlicher Gottesnähe genährt, sondern war vielleicht auch Ausdruck von Resignation und Hilflosigkeit. Als aber die vereinfachenden Methoden der Naturwissenschaften immer tiefere Einblicke in die Gesetzmäßigkeiten der Naturvorgänge ermöglichten und die Technik in deren Nutzanwendung immer erfolgreicher wurde, entstand bei den Menschen der "Neuzeit" schließlich der Eindruck, als ob alles machbar wäre.

Am Ende der Neuzeit erkennen wir allerdings, dass wir mit den Methoden der Naturwissenschaft komplizierte Vorgängen, die einander auch noch wechselweise beeinflussen, in ihrer Komplexität nicht mehr erfassen können.

Mitwirkung an der Gestaltung unserer Welt bedeutet, Ziele zu haben, sie planmäßig umzusetzen, Fehler zu vermeiden und zu verbessern. Als Ingenieur habe ich im Bereich der Technik erlebt, wie sich diese Vorgangsweise von der Weltraumfahrt über die Automobilindustrie zum globalen System des Qualitätsmanagement - später erweitert um Umwelt- und Sicherheitsmanagement - entwickelte. In der Weltraumfahrt ist es notwendig, völlig betriebssichere Bauteile einzusetzen, weil diese einem Austausch oder einer Reparatur viele Millionen Kilometer von der Erde entfernt nicht zugänglich sind. Die Autoindustrie wiederum verlangt eine "fehlerfreie" Serienfertigung, weil die Bauteile von verschiedenen Herstellern zeitgenau ("just in time") angeliefert werden, präzise zueinander passen und einwandfrei funktionieren müssen. Der Motor aus Österreich, die Installation aus Ungarn und die Elektronik aus Taiwan müssen in den USA so zusammen passen wie in Singapur. Ein kleinster Fehler im System kann zu schweren und folgenreichen Unfällen führen, daher setzen die Ingenieure alles daran, ihn zu vermeiden.

Ein wesentlicher methodischer Baustein dazu ist die in den Achtzigerjahren entstandene Fehler-Möglichkeits- und EinflussAnalyse (FMEA). Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich die systematische Suche und Beurteilung von möglichen Fehlern, die bei Herstellung und Gebrauch eines Produktes entstehen können. Alle beteiligten Fachleute lassen miteinander die Köpfe rauchen, um das Auftreten, die Bedeutung und die Entdeckbarkeit von Fehlern zu finden. Die Fehler werden aufgelistet nach Art und Ursache, dann ihre Häufigkeit (Fehlerwahrscheinlichkeit) und ihre Tragweite (Fehlerfolge) abgeschätzt und wie mit Schulnoten ("Risikoprioritätszahl") bewertet. Daraus ergibt sich die Reihenfolge, in der Verhütungs- und Prüfmaßnahmen gesetzt werden müssen.

Auf der Suche nach Fehlern

In einer Ausbildungsgruppe habe ich erlebt, die "Risikoprioritätszahl" von Fehlern beim Kaffeekochen zu bestimmen: kein Kaffee oder kein Wasser oder kein Filter in der Maschine, Maschine nicht eingeschaltet, nicht ausgeschaltet, Trichter verstopft, Wasser schmutzig, Stecker nicht eingesteckt, und, und... Kreativ stellten wir eine beachtliche Fehlerliste zusammen. "Kein Wasser" war Nummer 1 in der Hitliste, wir schätzten die Häufigkeit auf einmal in zwei Jahren, also 1 zu 730 bei täglichem Kaffeekochen. Und dann verglichen wir unsere Ergebnisse mit den Ziffern der Autobranche: dort gibt es Teile, bei denen die Fehlerquote nur 1 zu 730.000 sein darf, also nur ein Tausendstel unseres Kaffeekoch-Fehlers, weil ein Gebrechen im Auto zum Tod führen kann. Mit anderen Worten: Das Gesamtrisiko eines Fehlers im Autoteil ist also bedeutend höher als bei unserem fehlenden Kaffeewasser. Daher muss mehr für Vermeidung, Entdeckung und Behebung eines derartigen Fehlers getan werden.

Noten für Gefahrenquellen

So etwas wie die "Risikoprioritätszahl" hat sich auch für andere Bereiche durchgesetzt. Seit dem erschreckenden Unfall in der Kapruner Gletscherbahn wird das Brandrisiko von Bahnen bei Tunnelfahrten in Österreich neuerlich systematisch untersucht. Dabei wird beispielsweise der Erfüllungsgrad von Brandschutzvorschriften mit "Brandsicherheitsindikatoren (BSI)" nach Hutter-Siegele zwischen 0 und 100 ausgedrückt.

Allen Methoden ist gemeinsam, unterschiedliche Gefahrenquellen, die technisch sehr schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind, auf übersichtliche Art vergleichbar zu machen. Die "Benotung" ihrer Häufigkeit und in ihrer Tragweite durch "Indikatoren" macht Unvergleichliches "vergleichbar" und lässt eine Reihung zu, nach der sich die Anstrengungen zur Erhöhung der Sicherheit richten. Um bei der Bahn zu bleiben: Der Tankinhalt eines Dieseltriebwagens ist zwar "gefährlicher" als die Sitzbank im Fahrgastraum, hat aber im Normalbetrieb einen geringeren Risikoindikator, weil er technisch viel besser geschützt und gesichert ist das Sitzkissen, das - no na - öffentlich zugänglich sein muss.

Leider ist es mit dieser Reihung noch nicht getan, weil die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gefahrensträngen nicht berücksichtigt sind. Gerade das Unglück von Kaprun zeigt aber, dass erst die Wechselwirkung zwischen dem fehlerhaften Heizlüfter und der Ölleitung zur Katastrophe geführt hat - jede Zündquelle für sich allein gilt als unbedenklich. Es ist daher Aufgabe der zeitgemäßen Technik, weiter nach komplexeren Lösungsmethoden zu suchen ohne der Illusion zu erliegen, jedes Restrisiko ausschalten zu können.

In diesem Zusammenhang trifft sich die Technik mit einer Branche, die seit zwei Jahrhunderten vom Risiko lebt: den Versicherungsunternehmen. Der Versicherungsexperte Günter Simek geht in einer Diplomarbeit den Zusammenhängen auf den Grund. Im technischen Sinn versteht er Risiko als Nichterreichung von Zielen, erkennbar durch Vergleich von gewünschtem Zustand mit dem Ausgangszustand (Soll/Ist-Vergleich). Diese Interpretation deckt sich mit unserem Kaffeekochen: Das Fehlen des Wassers (Ist: Ausgangszustand) ist ein Risiko für den fertigen Kaffee (Soll: gewünschter Zustand).

Das Risiko übertragen

Simek weiter: Versicherungen leben davon, dass sie für genau definierte Ereignisse die Risiken von ihren Kunden gegen Bezahlung übernehmen. Dieser "Risikotransfer" wird erst durch das Gesetz der großen Zahl möglich. Obwohl die Schadensfälle beim Einzelnen unregelmäßig vorkommen, kann durch Zusammenfassen vieler gleichartiger Risiken ein im Durchschnitt gleichmäßiges Auftreten der Schadensfälle festgestellt werden.

Die Risikobetrachtung setzt umfangreiche statistische Informationen voraus. Man nimmt an, dass Erfahrungen aus der Vergangenheit auch für die Zukunft gelten. So ist es zum Beispiel möglich, für jeden Österreicher die Sterbewahrscheinlichkeit in einem gewissen Zeitraum vorherzusagen. Auf Grund von "Sterbetafeln" kann eine Versicherung kalkulieren, wie hoch die Prämie sein muss, damit bei Tod des Versicherten in einem bestimmten Zeitraum eine vereinbarte Versicherungssumme ausbezahlt werden kann. Das Risiko wird also "kalkulierbar". Da der größtmögliche anzunehmende Unfall (GAU) eines Atommeilers glücklicherweise nicht dem Gesetz der großen Zahl unterliegt, bleibt er "unkalkulierbar". Von misslungenen genmanipulierten "Streicheltierchen" sei hier gar nicht die Rede.

Das Risiko managen

Die Risikoanalyse überprüft also die Art des Risikos, die Eintrittswahrscheinlichkeit zwischen "sicher" und "unmöglich" und die Schadenshöhe.

Der systematische Umgang mit "Sicherheit" in allen Gebieten wird heute als Risikomanagement bezeichnet. Es handelt methodisch, wie Risiken vermieden, vermindert, überwälzt oder getragen werden.

Damit schließt sich der Kreis. Was immer analysiert, bewertet, gereiht, versichert und damit in Ziffern (Indikatoren, Prämien) ausgedrückt werden kann, muss genau umschrieben werden. Weil sich aber grundsätzlich nicht alles "genau" beschreiben lässt, bleibt absolute Sicherheit immer Wunschvorstellung und Illusion zugleich.

Der Autor ist Sachverständiger für Kunststofftechnik und Recycling in Wien.

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