Werbung
Werbung
Werbung

Postskriptum zum Kaprun-Prozess.

Die große und begreifliche Erregung, die nach dem Unglück von Kaprun und besonders nach dem Urteil im Prozess ausgebrochen ist, sollte auch ein Anlass zu über den Fall hinausreichenden, wenn auch durch ihn ausgelösten Überlegungen sein.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie groß das Bedürfnis ist, jemandem die Schuld auch an Ereignissen zu geben, die eine Verkettung unglückseliger Umstände sind, wie die Ereignisse in Kaprun. Allerdings steht diese starke Neigung, andere schuldig zu sprechen, in einem auffälligen Gegensatz zur Bereitschaft, eine eigene Schuld auf sich zu nehmen und einzugestehen. So leicht einem das "mea culpa, mea maxima culpa" als Formel über die Lippen kommt, so schwer fällt es fast jedem von uns, in einer konkreten Situation, besonders als Angeklagter vor Gericht, ein Schuldbekenntnis abzulegen. Selbst die an Massenmorden Schuldigen, wie die Angeklagten im Nürnberger Prozess, haben - von Ausnahmen abgesehen - auf "nicht schuldig" plädiert, und wahrscheinlich nicht nur, um den Folgen einer Schuldanerkenntnis zu entgehen, sondern aus dem Mechanismus eines verkrüppelten Gewissens heraus.

Machbarkeitswahn

Die Diskrepanz zwischen der Leichtigkeit, mit der wir fremde Schuld feststellen und einmahnen, und der fehlenden Bereitschaft, sich selbst schuldig zu sprechen, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Menschen, der nur allzu leicht geneigt ist, den Splitter im Auge des Bruders zu sehen, nicht aber den Balken im eigenen wahrzunehmen. Ehrliche Schuldbekenner und Skrupulanten, die sich über Gebühr anklagen, sind gegenüber der großen Masse der Schuldverleugner in einer verschwindenden Minderheit. Immerhin zeigt diese Diskrepanz aber auch, dass die Schuld als menschliches Versagen, ja als menschliche Bosheit ein konstituierendes Element unserer menschlichen Verfassung ist und bleibt, und dass das Christentum unseren Blick für die menschliche Schulddimension geschärft hat.

Allerdings gibt es auch eine Übertreibung und Fehlleistung des Schuldbewusstseins, die nicht aus demütiger Einsicht in die Unvollkommenheit alles Menschlichen stammt, sondern aus der Einbildung, alles so perfekt gestalten zu können, dass ein Unglück unter allen Umständen vermieden werden kann. Dieser Wahn der Perfektion und der Machbarkeit aller Dinge - demzufolge immer eine menschliche Schuld vorliegen muss, wenn nicht alles zufriedenstellend funktioniert oder gar ein großes Unglück entsteht - ist ein Rückfall und Abfall gegenüber der christlichen Lehre, dass der Mensch nie und nimmer imstande ist, alles Unglück in der Welt abzuwenden; dies gilt nicht nur bei offensichtlichen Naturkatastrophen, wie Erdbeben, sondern auch dort, wo menschliches Handeln zwischen natürliche Ursache und spätere Folge tritt.

Keiner von uns ist die Vorsehung, keiner kann diese ersetzen und aus der Welt schaffen. So gefährlich es ist, sich auf die Vorsehung zu berufen, wo noch menschliche Freiheit und Verantwortung im Spiel sind - noch gefährlicher und unchristlicher ist es, den Willen Gottes, der als causa prima hinter allen Akten der Natur und auch den Handlungen der Menschen steht, zu leugnen oder praktisch zu missachten, indem man Schuldige sucht, wo in Wahrheit eine niemandem zur Last zu legende Verstrickung fataler Umstände vorliegt.

Tragik des Daseins

Mit dem Begriff der Fatalität ist auch schon auf die antike Gedankenwelt Bezug genommen, in der der Glaube an das Schicksal und die Tragik des menschlichen Daseins, an die Verbindung von Verblendung und Fall, lebendig war, wie er uns in den großen Dramen des Sophokles, der "Antigone" oder dem "Ödipus", entgegentritt.

Die naive Überzeugung, dass alles technisch machbar ist und daher auch gefälligst zu funktionieren hat, fällt hinter die antike wie die christliche Lebensweisheit zurück, dass wir nicht letzte Herren der Welt sind und daher zum Glück auch nicht die letzte Verantwortung für das Weltgeschehen tragen, sondern immer nur für einen mehr oder weniger kleinen Teilbereich, was von Katastrophen, wie sie in Kaprun geschehen sind, immer wieder bestätigt wird. Hinter dem Wahn, alles perfekt gestalten und funktionstüchtig machen zu können, liegt eine menschliche Vermessenheit, die immer wieder Lügen gestraft wird. So menschlich verständlich auch der Wunsch Betroffener ist, um jeden Preis einen Schuldigen zu finden und zu verurteilen - dieser Wunsch greift ins Leere und stößt an eherne Grenzen. Und auch ein mögliches künftiges Wirtschaftsstrafrecht, das nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Unternehmen für eingetretene Katastrophen haftbar machen soll, kann dieses grundsätzliche philosophische Problem nur verschieben, aber nicht aufheben.

Der Autor ist Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für neuere österreichische Geistesgeschichte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung