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Der Weg zur Versöhnung

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Vergangenheitsbewältigung ist das säkularisierte Wort für Schuldverarbeitung. Wo keine Schuld vorliegt, da gibt es nichts zu bewältigen.

Es geht hier um die Frage: Wie wird ein Volk, ein Staat mit seiner Schuld fertig? Denn Schuld ist nicht nur eine private Kategorie, eine persönliche Angelegenheit jedes einzelnen. Es gibt ein schuldhaftes Verhalten eines Volkes, eines Staates als solchen, auch wenn ein einzelner, der ihm angehört, persönlich daran unschuldig ist.

Reden wir konkret: Österreich ist schuldig geworden; seine Regierungen und Ministerien, seine Parteien und Gewerkschaften, seine Vereine und Kirchen, das ganze Volk. Es lassen sich markante Stationen schuldhaften Verhaltens in diesem wie in allen Jahrhunderten seiner Geschichte nennen. Doch das unterscheidet Österreich nicht von anderen Völkern und Staaten. Auch sie sind schuldig geworden, gegeneinander und gegen sich selbst. Manche auch Österreich gegenüber — und Österreich ihnen gegenüber.

Schuld ist immer eine böse Sache, die viel Leid schafft. Sie ist mehr als menschliche Schwächen und Fehler: Der Mensch ist schuld an seiner Schuld. Er kann sie nicht zurückgeben an die Verhältnisse, an Strukturen und Sachzwänge. Er ist ihr nicht ausgeliefert wie einem blinden Schicksal, sondern er produziert sie selber.

Was tut man, wenn man schuldig geworden ist? Wie bewältigt man seine „Vergangenheit”? Eine erste Voraussetzung ist die Einsicht: Hier ist Schuld geschehen; das war meine, unsere Schuld. Dieser Einsicht steht freilich das Bedürfnis nach Selbstachtung und nach Achtung durch die Mitmenschen entgegen. Jeder meint: Wenn ich zugeben, daßjch schuld bin, verliere ich das Gesicht vor mir selbst und vor den anderen.

Wir machen es einander auch schwer, zur Einsicht zu kommen. Obwohl wir wissen, daß Schuld zum normalen Zustand der Menschheit gehört, rechnen wir viel zuwenig damit. Wir tun so, als ob man im Grunde doch von jedermann erwarten könnte, daß er ohne Schuld seinen Beruf ausüben und sein Amt verwalten könnte, daß die Mehrheit immer recht habe und das Volk als Ganzes doch nur das Gute wollen und tun könnte.

Je höher das Amt und die Instanz, desto höher diese Erwartung. Dabei haben doch Minister und Bischöfe, Präsidenten und Chefs aller Art ganz andere Möglichkeiten zu sündigen als die „kleinen Leute”, und der Schaden, den sie anrichten können, ist vergleichsweise größer.

öffentliche Schuldbekenntnisse sind jedoch nicht in jedem Fall anzuraten; sie sind auch meist (und zu Recht) allgemein gehalten, denn sie können mißbraucht werden. Ein Gegner kann sie als politisches Instrument, als Waffe zur Erpressung benützen. Auch die Kirche hat daher das Bekenntnis der Schuld im einzelnen immer dem verschwiegenen Gespräch unter vier Augen überlassen.

Ein glaubhaftes, wenn auch indirektes Schuldbekenntnis ist die Vorsorge, daß kein weiterer Schaden entsteht. Personelle oder strukturelle Veränderungen als „politische Konsequenz” aus einem Fehlverhalten müßten eine Selbstverständlichkeit sein und dürfen nicht mit einem Ruf nach Pietät oder Barmherzigkeit ver-, hindert werden.

Zur Schuldbewältigung gehört auch, daß ein angerichteter Schaden wiedergutgemacht wird. Doch im privaten wie im öffentlichen Leben läßt sich mancher Schaden gar nicht wiedergutmachen, sind die ursprünglichen Verhältnisse oft nicht einfach wiederherstellbar. Eine durch Unrecht und Schuld geschaffene Realität muß manchmal zur Kenntnis genommen werden, wenn nicht noch größerer Schaden entstehen soll.

Gewiß, der Friede ist eine Frucht der Gerechtigkeit; doch auch der Verzicht auf gewaltsame Durchsetzung gerechter Ansprüche kann dem Frieden dienen. Dazu gehört auch der Verzicht auf den bei jeder Gelegenheit hervorgeholten Hinweis, der Gegner habe früher einmal unrecht getan. Wie man immer wieder miterleben kann, ist die Folge davon nicht eine noch bessere Einsicht, sondern Empörung und Entrüstung.

Eine Wunde, in der man ständig herumstochert, kann nicht heilen. Es müßte einen gesellschaftlichen „Pakt der Fairneß” geben, bestimmte Dinge aus der Vergangenheit begraben sein zu lassen.

Jetzt wage ich das Wort „Vergebung”. Sie ist wie die Schuld keine bloß private oder religiöse, sondern auch eine politische Kategorie. Vergebung kann nichts ungeschehen machen und auch keinen Schaden reparieren. Vergebung heißt: Wir lassen dich leben trotz deiner Schuld, trotz der schlimmen Lage, in die du uns gebracht hast. Wir wollen uns versöhnen, denn wir wollen beide weiterleben. Unversöhnlichkeit schafft weiteres Unrecht. Einer muß den Kreislauf des Bösen durchbrechen und sagen: Ich bin dir gut, obwohl du unrecht getan hast.

So hat es der Berliner Kardinal Meisner beim Katholikentag 1983 den Völkern Europas zugerufen: Nicht „wie du mir, so ich dir”, sondern „wie Gott mir, so ich dir”. Erst dann ist die Vergangenheit mit aller ihrer Schuld bewältigt.

Der Autor ist Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Hochschule Linz.

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