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Die USA: ein christliches Land?

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In den Vereinigten Staaten ist seit einiger Zeit die Stellung der Religion im öffentlichen Leben erneut zur Diskussion gestellt worden. Eine Entscheidung des Obersten Bundesgerichtes hat auf eine Klage religiös nicht festgelegter Eltern in New York die tägliche Benützung eines von der Erziehungsbehörde vorgeschriebenen Gebets in der Schule als der Verfassung widersprechend untersagt. Ein Sturm der Entrüstung ergab sich in vielen Kreisen: Verjagt man Gott aus der Erziehung? — Inzwischen sind zwei weitere Urteile lokaler Gerichte dem Bundesgericht zur endgültigen Entscheidung vorgelegt worden: In einem Staat wurde die tägliche Verlesung von Bibelstellen in den Schulen freigegeben, im anderen Fall wurde entschieden, daß es dem Gesetz widerspreche. — In den USA gibt es 254 verschiedene religiöse Gruppen. Die neun größten sind: die römisch-katholische Kirche mit 40,871.302 Mitgliedern, die Baptisten mit 20,877.233, die Methodisten mit 12,359.279, die Lutheraner mit 8,062.8 80, die Presby-terianer mit 4,212.554 Anhängern. Dazu kommen 5,370.000 Angehörige der jüdischen Religion, 2.820.212 Gläubige der östlich-orthodoxen Kirchen, 3,359.048 Angehörige der episco-paelischen Kirche und 1,880.414 Anhänger einer Kirche, die sich „Anhänger Christi“ nennt.

Den zirka 40 Millionen Katholiken stehen nach der letzten Volkszählung also ungefähr 60 Millionen Angehörige protestantischer Kirchen oder Sekten gegenüber. Sie alle — und auch die nichtchristlichen Gruppen, wie etwa 100.000 Moslems und der mit Hawaii, dem 50. Staat der Union, gleichfalls 100.000 umfassende Buddhismus (20.000 auf dem Festland, 80.000 in Hawaii) — genießen die in der Verfassung garantierte Religionsfreiheit, die eine völlige Trennung zwischen Kirche und Staat festlegt:

„Der Kongreß darf keine Gesetze erlassen, die eine offizielle Anerkennung einer speziellen Religion oder das Verbot ihrer freien Ausübung darstellen.“

Das hat tiefgreifende Konsequenzen: Präsident Kennedy hat sein Programm der Staatsbeihilfe für die Höheren Schulen im Kongreß bisher vor allem deswegen nicht durchsetzen können, weil er sich, der Verfassung fol-# gend, geweigert hat, die zum größten Teil konfessionell ausgerichteten Privatschulen einzubeziehen.

Die staatliche Erziehung soll außerhalb jeder religiösen oder nichtreligiösen Beeinflussung bleiben: Den Eltern bleibt es vorbehalten, wenn sie es wünschen, in den eigenen religiösen Gemeinschaften oder auch von ihnen finanzierten Schulen völlig frei religiöse Unterweisung einzurichten.

Protestantische Sonntagsschulen, katholische und jüdische religiöse Unterweisungsstellen gibt es in großer Zahl im ganzen Land. Die katholische Kirche unterhält zum Beispiel 12.850 katholische Privatschulen als Volksschulen, Höhere Schulen, Colleges und Universitäten mit einer Gesamtzahl von ungefähr fünf Millionen Schülern oder Studenten. Privat finanziert arbeiten 771 Colleges und Universitäten

Altäre zwischen Wolkenkratzern auf religiöser Grundlage: 280 sind katholisch, 484 protestantisch, fünf jüdisch und zwei russisch-orthodox. 509 weitere vom Staat unabhängige Institutionen dieser Art haben religiöse Fundamente, legen sich aber nicht auf eine bestimmte Konfession fest.

Die Beispiele dafür, daß in Amerika alle Möglichkeiten bestehen, religiösen Überzeugungen aller, aber auch aller Art (nur einmal ist man gegen „Auswüchse“ eingeschritten, als man einer intransigenten Gruppe der inzwischen sehr respektabel gewordenen „Heiligen der letzten Tage“, der Mormonen, die Polygamie verbot!) Genüge zu tun, ließen sich beliebig vermehren.

Die Vereinigten Staaten sind ein christliches Land. Aber ein christliches Land, dessen Verfassung es untersagt, eine bestimmte Kirche staatlich zu sanktionieren, und außerdem darauf besteht, die nichtchristlichen Minderheiten als völlig gleichberechtigt zu behandeln. Gegründet von nonkon— formistischen Christen puritanischer Observanz, hat die Nation sehr früh verstanden, der eigenen schmerzvollen Erfahrung der Gründer folgend, einer rechthaberischen Theokratie zelotischer Fanatiker einen Riegel vorzuschieben.

Und wenn heute der Katholik Kennedy, obwohl das katholische Element im letzten halben Jahrhundert in alien gesellschaftlichen und politischen Funktionen in den USA steigenden Einfluß bekommen hat, sich bewußt an die weise Regel der Pilgerväter hält: allen Kulturkampftendenzen der Konfessionen dadurch die Argumente zu entziehen, daß der Staat allen religiösen Bekenntnissen freie Ausübung ihres Kults erlaubt, aber auch den nicht Glaubenden Schutz verleiht, beweist das nur, daß hier wirklich die Konsequenz aus der amerikanischen Lebensform gezogen wird. Als „offene Gesellschaft“ des großen amerikanischen „Schmelzofens“ ist man entschlossen, das Prinzip der Freiheit auch da zu gewährleisten, wo die Versuchung nahe läge, im Interesse der eigenen Glaubensgrundlage missionärisch wirken zu können.

Eine „unfertige Gesellschaft“, wie Herbert von Borch die heutige amerikanische Sozialstruktur ergänzend genannt hat, bietet viel Anlaß für skeptische Analysen! Kaum ein Grund zur Kritik besteht indes in der Behandlung der Religionsfreiheit. Die Verantwortlichen in allen drei Sektoren der Regierung — Weißes Haus, Kongreß und Bundesgericht — bemühen sich offensichtlich, gerade hier das pluralistische System des modernen Miteinander bei mannigfachen Antworten auf die Fragen der Zeit als wirksam zu beweisen.

Es gibt Konfliktstoffe. Es gibt Opposition und — ihr folgend — partielle Bitterkeit. Aber diese Dinge sind — unvermeidliche — Randerscheinungen. In der Wahlkampagne, die der junge Senator Kennedy vor mehr als zwei Jahren zu führen hatte, haben fundamentalistische Kreise des Protestantismus in teilweise schrillen Fomulierun-gen vor den „papistischen“ Gefahren gewarnt, die die Wahl eines Katholiken zum Präsidenten der Vereinigten Staaten mit sich bringen würden. Kennedy stellte sich resolut einem Forum protestantischer Theologen und Prediger, deren Fragen er offen und rückhaltlos beantwortete. Er überzeugte den Großteil von ihnen, daß er — obwohl gläubiger Katholik — als Amtsträger stets amerikanische, nie konfessionelle Politik betreiben würde ...

Es hat auch skeptische katholische Stimmen gegeben, als er — wider Erwarten? — sich in der Frage der Finanzierung katholischer Privatschulen auf den Boden der — säkularen — Verfassung stellte. Aber die Tonlage der Opposition blieb gedämpft. Von vielen Seiten in der Frage dej Gerichtsbeschlusses über das New Yorker Schulgebet um seine Stellungnahme ersucht, hat er sachlich zum Ausdruck gebracht, daß er die Widerstände ge gen das Verbot versteht (sogar durchblicken lassen, daß er sie emotionell teilt), aber unmißverständlich verlangt, daß dem Beschluß des Obersten Gerichts Reverenz erwiesen wird und angefügt, daß der Konflikt immerhin dazu führen könne, daß christliche Familien in ihrem Heim mehr als bisher Gebet und christliches Wesen pflegen, wertvoller vielleicht als offizielle Schulgebete...

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