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Ein Schritt aus der Sackgasse

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Paris, im Oktober

Man kennt jene chemischen Prozesse, bei denen ein paar Tropfen einer neuen Flüssigkeit eine gestaltlose Masse zu konturierter Form gerinnen lassen. Ein ähnlicher Prozeß hat sich in der französischen Politik vollzogen. Sie hat über Nacht jene beunruhigende Unbestimmtheit verloren, die im Inland wie im Ausland so viele Sorgen bereitet hat. Anlaß war, daß General de Gaulle sein jahrelanges Schweigen über seine politischen Ziele, das er ja auch nach seiner Rückkehr an die Macht aufrechterhielt, nun endlich gebrochen hat. Seine autoritativ vorgetragenen Direktiven für die kommenden Wahlen in Algerien waren eine Option, deren Sinn diesseits wie jenseits des Mittelmeeres vom Volk sofort verstanden wurde.

Unsere Leser erinnern sich, wie widersprüchlich die Ja-Mehrheit für de Gaulle vom 28. September zusammengesetzt war: sowohl Kolonialisten wie Anhänger einer liberalen Algerienpolitik hatten zu ihr beigetragen und beide nahmen de Gaulle für sich in Anspruch. Man hatte sich darum damals gleich gefragt, wer bei diesem Handel wohl der Düpierte — oder, wie der Franzose sagt, der „cocu“ — sein werde. Und viele befürchteten, daß de Gaulle eine klare Option vermeiden werde, da eine solche ja automatisch seine allzu große Mehrheit wieder beschneiden müsse.

Es wird wohl immer das Geheimnis de Gaulles bleiben, ob er sich der Tragweite seiner Entscheidung bewußt war. Sachlich halten sich jene Wahldirektiven für Algerien ja durchaus im Rahmen seiner bisherigen Politik, seine schiedsrichterliche Rolle nicht durch Stellungnahmen für oder gegen den Kolonialismus zu gefährden, sondern diesen sich selbst ad absurdum führen zu lassen. Seine Absicht ist ganz offensichtlich, es innerhalb Algeriens zu einer parlamentarischen Vertretung zum mindesten gemäßigter Elemente des algerischen Nationalismus kommen zu lassen und diesen so zü domestizieren. Aber Algerien ist elektrisch geladen; schon ein so sachtes Nachhelfen mußte zu einer Kettenreaktion führen„„Die kolonialistischsn ,.Ultras“ kommen sich genasführt vor und es formieren sich rechts von de Gaulle bereits die Kräfte, die von der „zweiten Revolution“ träumen — jener Revolution, welche die „verratene Revolution des 13. Mai“ zu Ende zu führen habe.

De Gaulle hat jedoch, was er zu seiner Rechten verlor, auf der Linken dazugewonnen. Nicht nur stehen die zahlreichen „Liberalen“, die sich am 28. September nur zögernd zum „Ja“ hatten entschließen können, nun fest zu ihm. Auch das Lager der nichtkommunistischen Nein-Stimmer hat sich, Mendes-France an der Spitze, zur Mitarbeit bereit erklärt: wenn den Worten nun auch konkrete Taten folgten, könne de Gaulle auf sie zählen. Und selbst die Kommunistische Partei hat ihre Attacken gegen den „Diktator“ gedämpft: man hat im Politbüro offensichtlich gemerkt, wie sehr de Gaulle die überwiegende Mehrheit des Volkes hinter sich hatte, als er die Militärs an die Kandare nahm.

Allerdings: bisher ist nur eine Bresche geschlagen, nicht mehr. Es bedarf noch vieler harter Eingriffe, um der französischen Algerienpolitik wirklich eine neue Richtung zu geben. Vor allem tut man gut daran, sich nicht zu schnell darauf zu verlassen, daß der Brandherd des 13. Mai nun endgültig ausgetreten sei, weil nun die Armee sich definitiv von den zivilen Putschisten abgesetzt habe. Gewiß, die Offiziere haben pariert. Aber die Politisierung des Berufsoffizierskorps ist seit Indochina beträchtlich fortgeschritten, so daß dort die Behauptung fruchtbaren Boden findet, daß nun auch General de Gaulle der „mendesistischen“ Häresie verfallen sei. Es wird von der künftigen Politik des Regierungschefs abhängen, ob es zu einer neuerlichen Zusammenarbeit zwischen abenteuernden Obersten und Rechtsextremisten kommt wie am 13. Mai oder nicht.

Ein Opfer dieser nur zurückgedrängten, keineswegs zum Verschwinden gebrachten' Gärung scheint übrigens auch der „Gaullismus von 195 8“ zu sein. Zwar haben sich die im Frühjahr wie Pilze aufgeschossenen Gruppen und Grüppchen vor einiger Zeit unter Führung von Soustelle zu einer Dachorganisation, der „Union für die neue Republik“, zusammengeschlossen. Aber de Gaulle hat bereits erklärt, daß sich bei den kommenden Kammerwahlen keine politische Organisation auf ihn berufen dürfe, und er hat auch seinen Familienangehörigen untersagt„ sich dabei, als Aushängeschild

Doch nicht das allein schwächt' dieses Lager, von dem man noch vor kurzem befürchtet hatte, es könnte bei den Wahlen einen „Erdrutsch“ provozieren. Die „Union für die neue Republik“ scheint auch bereits an heftigen Richtungskämpfen zu leiden, die ihre Ursache nicht bloß in persönlichen Rivalitäten zu haben scheint. Die Gaullisten von heute, selbst ein Soustelle, scheinen innerlich zerrissen zu sein: sollen sie den kolonialistischen Thesen treu bleiben, die sie bisher verfochten haben, oder dem General, der diese Thesen soeben unter den Tisch gewischt hat? Kein Wunder, daß die Bildung eines großen Rechtsblocks unter der Parole „LAlgerie francaise“ gescheitert ist, wie ihn Soustelle zusammen mit den anderen prominenten Verfechtern der Identität von Frankreich und Algerien gründen wollte — mit den „Independants“ von Duchet, mit Bidaults „Christlicher Demokratie“ und mit den dissidenten Radikalen um Andre Moriee.

Es leuchtet ein, daß de Gaulle bald handeln muß, wenn er diese (vorläufige) Zersplitterung der Rechten zur Durchführung eines Kurswechsels in Algerien benützen will. Um so mehr, als zur Zeit auch die Lage außerhalb Frankreichs für eine „liberale Lösung“ in Algerien günstiger ist als je seit drei Jahren. Im

Lager des algerischen Nationalismus hat der verständigungsbereite Ferhat Abbas gegenüber den radikalen Elementen des Maquis ein ausdrückliches Verhandlungsangebot an de Gaulle durchgesetzt. Das fällt ins Gewicht — auch wenn der Ministerpräsident der algerischen Exilregierung inzwischen in Kairo, in der Nähe Nassers, die Anerkennung der algerischen Unabhängigkeit als conditio sine qua non für Verhandlungen wieder aufgenommen hat, die er in dem Interview mit dem Berliner „Tag“ zum ersten Male fallengelassen hatte. Der so überraschend ausgebrochene Konflikt zwischen Bourguiba und Nasser bietet ja sowohl dem Maquis wie auch de Gaulle Weichenstellungen an, die zu Verhandlungen „ohne Verlust des Gesichtes“ für beide Seiten führen können. Die französischen Kolonialistenorgane argwöhnen denn auch bereits, de Gaulle habe insgeheim Bourguiba zum Bruch mit Kairo ermuntert. Eine Lösung des Algerienproblems im Rahmen eines maghrebini-schen Staatenbundes könnte ja nun auf keinen Fall als Kapitulation vor Nasser ausgelegt werden. .....t. , . , ifc

Wie dem auch,;ijej -r:fe französische •Politik hat einen ersten Schritt aus der Sackgasse heraus gemacht. Alles hängt nun davon ab, ob der General de Gaulle die Stunde zu nutzen weiß. Daran wird sich erweisen, ob er nur „ein Denkmal“ ist oder ein wirklicher Staatsmann.

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