Klasse

Jugend zur Ära Merkel: „Ich denke an ‚Wir schaffen das‘“

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Wer in Deutschland 2005 geboren wurde, hat bislang nur ein Regierungsoberhaupt erlebt. Die FURCHE besuchte Schülerinnen und Schüler dieses Jahrgangs im Gymnasium Bad Aibling und sprach mit ihnen über die vergangenen 16 Jahre und ihre Zukunftsvisionen.

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Wer in Deutschland 2005 geboren wurde, hat bislang nur ein Regierungsoberhaupt erlebt. Die FURCHE besuchte Schülerinnen und Schüler dieses Jahrgangs im Gymnasium Bad Aibling und sprach mit ihnen über die vergangenen 16 Jahre und ihre Zukunftsvisionen.

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Achtzehnter September 2005. Bundestagswahlen in Deutschland. Die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder verliert die Mehrheit. Die Union wird stärkste Kraft. Die Spitzenkandidatin heißt Angela Merkel. Im Landkreis Rosenheim, 650 Kilometer südwestlich des Berliner Regierungsviertels, wird an diesem Tag Moritz Drechsler geboren. Bis zu seinem 16. Geburtstag wird es in Deutschland ein und dieselbe Regierungschefin geben. „Ich kenne nur eine Kanzlerin.“ Moritz Drechsler steht Pate für eine Generation, die mit Angela Merkel groß geworden ist.

Zum Vergleich: Während ein 16-Jähriger in Österreich heranwuchs, folgte auf Schüssel (ÖVP) Gusenbauer (SPÖ), der wurde von Faymann (SPÖ) abgelöst, der wiederum von Kern (SPÖ), dieser von Kurz (ÖVP), dazwischen gab es ein Gastspiel von Übergangskanzlerin Brigitte Bierlein – und seit 2020 ist erneut Sebastian Kurz im Amt. Auch Moritz Drechslers Pendants in Italien, Frankreich oder Schweden haben Staatschefs kommen und gehen sehen.

Was verbinden Moritz Drechsler und seine Altersgenossen mit der Person Angela Merkel? Heute geht er in die neunte Klasse des Gymnasiums Bad Aibling (in Deutschland wird die Zählung der Klassenstufe von der Volksschule weg fortgeführt). Das Fach Politische Bildung wird in Bayern erst ab der zehnten Schulstufe unterrichtet. Vielleicht ein Grund, warum es zunächst nur Fragmente sind, die den Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I zur scheidenden Bundeskanzlerin einfallen. „Wenn ich an Angela Merkel denke, kommt mir deren Handgeste, die Raute, in den Sinn“, sagt etwa Leonhart. Seine Klassenkameradin Johanna erklärt: „Mir fällt die Flüchtlingskrise ein.“ Mehrere Köpfe nicken. Auch der von Tobias. „Bei mir hat sich der Satz ‚Wir schaffen das‘ eingeprägt.“

Fukushima als Wendepunkt

Mit „Chemnitzer Hetzjagd und Maaßen“ gibt Schüler Linus zwei weitere Stichworte. Schnell wird klar: Angela Merkel hat zumindest die Jugendlichen aus dieser Klasse vor allem durch ihre Migrationspolitik auf sich aufmerksam gemacht. Doch zunächst soll es um einen anderen Kurswechsel gehen, den die Kanzlerin ziemlich genau ein halbes Jahr vor ihrem ersten Schultag eingeleitet hat:

März 2011. Ein Erdbeben erschüttert die Küste Japans, löst einen Tsunami aus. In vier von sechs Atomreaktoren im Kraftwerk Fukushima kommt es zur Kernschmelze. Große Mengen an Radioaktivität werden freigesetzt. Über 170.000 Menschen werden umquartiert. Mit etwa 600 werden die direkten Todesopfer beziffert. Mit rund 10.000 Todesopfern rechnen Experten durch Spätfolgen. Drei Tage nach dem Unglück verhindert die CDU die Laufzeitverlängerung eines Atommeilers. Einen Monat später verkündet Angela Merkel die Energiewende: Bis 2022 sollen die deutschen Kernkraftwerke stillgelegt sein.

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Eine zukunftsträchtige Entscheidung? Trifft sie auf Zustimmung? „Grundsätzlich ja“, sagt Moritz Drechsler. Einige aus der Klasse sehen indes die Tatsache kritisch, dass Frankreich oder Polen nicht gleichzögen und teilweise marode Reaktoren in ihrer unmittelbaren Nähe weiter liefen. Schüler Martin erzählt, er habe jüngst ein Referat zu diesem Thema gehalten. In der Vorbereitung war er zu dem Schluss gekommen, dass Deutschland lieber auf Kernfusion setzen solle. „Weil dann kein Atommüll entsteht.“ Klassenkamerad Linus pflichtet ihm bei. Mitschülerin Katharina widerspricht vehement. Auch im Namen der Mädchen, die neben ihr sitzen. Sie wünschten sich, in einem Land zu leben, das erneuerbare Energien priorisiere. Eine hitzige Debatte entsteht.

Flüchtlingskrise

September 2015. Moritz Drechsler und seine Mitschüler(innen) wechseln von der Volksschule in die fünfte Klasse des Gymnasiums Bad Aibling. In der Kleinstadt 50 Kilometer südöstlich von München scheinen die großen Themen der Weltpolitik weit weg. Unter anderem die Lage im Bürgerkriegsland Syrien. Während die Heranwachsenden dabei sind, in die Rolle des Gymnasiasten zu finden, sind mehr als vier Millionen Menschen auf der Flucht. Europa ist nicht vorbereitet auf die massiven Migrationsbewegungen. Am 4. September 2015 nimmt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán mit dem österreichischen Außenministerium Kontakt auf. Die Situation sei außer Kontrolle, erklärt er. Der damalige Kanzler Werner Faymann berät sich mit Merkel. Sie schlägt vor, die Flüchtlinge im Verhältnis zehn zu eins auf die beiden Länder aufzuteilen. Wenige Stunden später kommen rund 20.000 geflüchtete Kinder, Frauen und Männer am Münchner Hauptbahnhof an. Die Ankommenden werden herzlich empfangen. Merkels Ausspruch „Wir schaffen das!“ geht um die Welt.

In die Lufthansa wurden Milliarden hineingepumpt, in die Schulen nicht einmal eine.

Gymnasiast Adam

Die Entscheidung der deutschen Kanzlerin tragen nicht alle mit. Die Diskussion wird befeuert durch Geschehnisse in Köln. 650 Frauen werden Opfer von Sexualdelikten. Die meisten Verdächtigen sollen Asylbewerber sein. Ein Zusammenhang mit Merkels liberaler Flüchtlingspolitik wird hergestellt. Wie stehen die Schülerinnen und Schüler der neunten Gymnasiumsklasse zu dieser Debatte?

Emma meldet sich zu Wort. Ihrer Ansicht nach hat Deutschlands Hilfsbereitschaft ihre Schattenseiten. „In Bad Aibling kann ein Mädchen nicht allein durch den Kurpark gehen, ohne Angst zu haben, von Zuwanderern angesprochen zu werden.“ Pauschalisieren will sie nicht. Bekannte ihrer Eltern hätten 2015 Flüchtlinge aufgenommen und gute Erfahrungen gemacht. „Jeder hat das Recht, um Hilfe zu bitten, wenn es ihm schlecht geht“, argumentiert Elias, dessen Vater in einem SOS-Kinderdorf arbeitet und ihm viel über Fluchtursachen erzählt hat. Er sieht es als Bereicherung, dass durch die Asylbewerber neue Kulturen in Deutschland Einzug gehalten haben. Johanna kann sich nur an Container, in denen geflüchtete Familien untergebracht waren, erinnern. Tobias berichtet, dass ein Teil seines Umfeldes Merkels Asylpolitik ablehnt. Ihn selbst habe die Berichterstattung über kriminelle Zuwanderer verstört. „Ich komme vom Land und kriege das nicht direkt mit. Aber wenn das wahr ist, muss man Konsequenzen ziehen.“

Schülerinnen

Schülerinnen der 9. Klasse. Wenn Johanna (Mitte) an das Jahr 2015 denkt, denkt sie an Container, in denen geflüchtete Familien untergebracht waren.

Jänner 2020. In Deutschland wird die erste Covid-19-Infektion gemeldet. Im März stellt der Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ fest. Lockdown. Kontaktbeschränkungen. Schulschließungen. Home-Schooling. Wie ist es den Schülern ergangen? „Für mich war Distanzunterricht eine sehr schlimme Zeit“, sagt Simon. In Adams Augen hat die deutsche Regierung in der Coronakrise die Kinder und Jugendlichen schlichtweg vergessen. „In die Lufthansa wurden Milliarden hineingepumpt. In Schulen nicht einmal eine. Während die einen auf Mallorca bereits Party gemacht haben, wurde uns der Präsenzunterricht verwehrt. Das ist bitter.“ Ähnlich argumentiert Anna. Für sie ist es nicht nachvollziehbar, warum Public Viewing und EM stattfinden dürfen, während sie in der Schule nach wie vor Mund-Nasen-Schutz tragen müssten. Heranwachsende hatten in der Pandemiepolitik keine Priorität, so der Konsens in der Klasse.

Klasse

Die FURCHE als Mitbringsel für die Klasse 9c des Gymnasiums Bad Aibling.

26. September 2021. Bundestagswahlen in Deutschland. Moritz Drechsler und seine Klassenkameraden dürfen noch nicht wählen. Eine Vorstellung von der politischen Zukunft ihres Landes haben sie trotzdem: Viele wünschen sich einen Regierungswechsel und können es nicht verstehen, warum Leute wie Jens Spahn (Maskenaffäre) oder Philipp Amthor (Lobbyismusverdacht) nicht aus der CDU geworfen werden. Moritz Drechsler: „Daran muss sich endlich etwas ändern. Auch wenn das heißt, dass die Grünen an die Macht kommen.“

Standbild Navigator - © Foto: Die Furche

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