Bibliothek - ©  APA/AFP/STR - Bibliothek mit gespiegelter Decke in der Stadt Shaoyang in Chinas zentraler Provinz Hunan.

Und was denkt China?

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Welche philosophischen und gesellschaftlichen Konzepte stecken hinter der Politik im Reich der Mitte? Ein Sammelband gibt Einblick in die Debatten dazu.

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Welche philosophischen und gesellschaftlichen Konzepte stecken hinter der Politik im Reich der Mitte? Ein Sammelband gibt Einblick in die Debatten dazu.

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In gewisser Weise sitzt die Welt wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange, wenn es um China geht. Größere geopolitische oder wirtschaftliche Ereignisse, etwa jüngst der unselige Überfall Russlands auf die Ukra­ine, lassen regelmäßig nach der Position der chinesischen Regierung fragen. Dabei präsentieren sich das Land und seine Tradition vielfach als riesenhafte black box, als schier undurchdringlicher und nur schwer verstehbarer Moloch, was fast zwangsläufig entweder zu Dämonisierung oder zu Mystifizierung führt. Die Deutung diverser Äußerungen politischer Funktionäre fällt dabei schon deshalb oftmals schwer, weil man wenig über die grundsätzlichen Zugänge zu Themen wie Welt und Weltordnung (und deren Begründung) innerhalb Chinas weiß.

Das hat auch viel mit der Frage der Zugänglichkeit zu den dementsprechenden Quellen zu tun. Wenige werden wohl ausreichend des Chinesischen mächtig sein (und diese Sprache so meistern), um sich in Originaltexten orientieren zu können (was aber noch immer die Fragen der Interpretation, aber auch der Auswahl nicht löst). Übersetzungen zen­traler Texte der modernen Debatte kommt deshalb eine besonders große Bedeutung zu.

„Alles unter dem Himmel“

Was nun die Frage einer grundsätzlichen Positionierung Chinas in der Welt betrifft, so ist bislang im deutschsprachigen Raum (der englische Sprachraum ist hier naturgemäß anders, aber auch nicht überragend besser aufgestellt) eigentlich nur ein Autor bekannter geworden, weil eine Zusammenstellung seiner wichtigsten Gedanken in einem renommierten deutschen Verlag erschienen ist: der Philosoph Zhao Tingyang und sein Konzept des tianxia , das ob seiner Botschaft dann doch gehörig irritierte, zumal diesem Autor ja auch nachgesagt wurde, dass er zu den favorisierten Philosophen des aktuellen Staatspräsidenten Xi Jinping zählt.

Die Veröffentlichung stellt einen sehr starken Gegensatz zwischen „westlicher“ und chinesischer Denkweise in den Mittelpunkt und erklärt bedeutende Errungenschaften der westlichen Moderne, wie liberale Demokratien oder das Konzept von Menschenrechten, für obsolet. China und sein Regierungssystem werden vielmehr ob der darin angeblich transportierten Harmonie zum zukünftig relevanten Ideal stilisiert. Letztendlich fügt sich „alles unter dem Himmel“ (so die wörtliche Übersetzung des zen­tralen Begriffs tianxia), das heißt im Endeffekt die Welt, zu einem harmonisch miteinander verwobenen Ganzen unter der weisen Führung einer Weltregierung, womit wohl nichts anderes als China gemeint sein kann.

Die äußerst kontroverse Wahrnehmung dieses Buches ist möglicherweise auch in der Tatsache begründet, dass es fast klischeehaft der westlichen Erwartungshaltung entspricht: Das riesenhafte China und sein Dominanzanspruch erfahren in diesem Buch gleichsam eine philosophische Begründung. Doch ist Zhao beileibe (und man ist versucht zu ergänzen: glücklicherweise) nicht der einzige Intellektuelle Chinas, der sich Gedanken über eine zukünftige Weltordnung macht. Vielmehr gibt es einen äußerst ausgeprägten, vielschichtigen innerchinesischen Diskurs, der unterschiedliche Positionen aufweist.

Intellektuelle Schlüsseltexte

Eine neue Veröffentlichung gibt nun die einzigartige Möglichkeit, sich hier zumindest ausschnittweise ein Bild zu machen. Der in Freiburg lehrende Sinologe Daniel Leese hat gemeinsam mit dem chinesischen Journalisten Shi Ming das Buch „Chinesisches Denken der Gegenwart“ herausgebracht, das Schlüsseltexte chinesischer (öffentlicher) Intellektueller und politischer Denker zu Politik und Gesellschaft das erste Mal in deutscher Sprache in einer kommentierten Übersetzung zugänglich macht.

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