Leere Kirche - © iStock/morfous

Unaufhaltsam: Der Niedergang der Religion

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Eine aktuelle Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt Einblicke in Entwicklungen, derer man sich viel zu wenig bewusst ist und deren Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und zusätzlich: Was hat dies alles mit dem gegenwärtigen Krieg in Nahost zu tun?

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Eine aktuelle Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt Einblicke in Entwicklungen, derer man sich viel zu wenig bewusst ist und deren Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und zusätzlich: Was hat dies alles mit dem gegenwärtigen Krieg in Nahost zu tun?

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Religion als positive oder negative Ressource ist in aller Munde. Gerade die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten, die Folge des brutalen Terrorangriffs der Hamas auf Israel sind, triggern die üblichen Reaktionen. Da gibt es zum einen den Hinweis auf die verderblichen Auswirkungen der Religionen, der sich an der jahrtausende­alten Konfrontationsgeschichte der drei nahe verwandten Religionen Judentum, Christentum und Islam abarbeiten kann. Umgekehrt geben die aktuellen Ereignisse aber auch Anlass, eine positive Sichtweise auf Religionen zu propagieren, indem man den Fokus auf deren „friedensfördernde“ Aspekte als möglichen Ausweg und wichtigen Motor für künftige versöhnende Aktionen sieht.

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Diese Sichtweisen haben etwas für sich, weil Religionen in der Tat Optionen für beides in sich tragen. In beiden Fällen ist allerdings jegliche essenzialistische Fest­legung schlichtweg Unsinn: Die üblichen Stehsätze, etwa dass eine dieser drei Religionen (wahlweise auswechselbar und durchaus auch um andere zu ergänzen) ja eigentlich „den Frieden“ repräsentieren würde, sind angesichts der historischen und aktuellen Realitäten intellektuell unredlich.

Aber auch die umgekehrte Verdammung als alleinige Wurzel allen Übels wird der Komplexität der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einflussebenen und Konstellationen nicht gerecht.

Eine dramatische Entwicklung

Das, was aber beide Annahmen in gewisser Weise eint, ist eine Grundvorgabe, nämlich dass Religion ein essenzieller Aspekt des menschlichen Selbstverständnisses und der Mensch quasi naturaliter religiös sei. Und hier ergibt sich nun eine interessante Brücke zu einer kürzlich veröffentlichten Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, die eine ganz andere Interpretation zulässt und uns möglicherweise Einblicke in eine Entwicklung gibt, derer man sich oft zu wenig bewusst ist. Es handelt sich um die aktuellen Ergebnisse einer der großen Kirchenmitgliederbefragungen, die in Jahrzehntabständen von der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgelegt werden.

Diese stehen auf einer beeindruckend breiten Basis und diesmal wurden noch dazu nicht nur Mitglieder der evangelischen Kirche befragt, sondern es gab erstmals auch eine Kooperation mit der katholischen Kirche, es wurden Konfessionslose befragt und auch Mitglieder anderer Religionen. Das Ergebnis kann somit als noch aussagekräftiger angesehen werden. Schon in anderen vergleichbaren Studien, etwa in der Freiburger Studie von 2019, wurde stark auf die Mitgliederentwicklung in den Kirchen fokussiert, und einer der überraschendsten Befunde der nun vorliegenden ist die auffällige Steigerung, um nicht zu sagen die Dramatik der Entwicklung.

Das betrifft natürlich einmal den augenscheinlichsten Aspekt, nämlich den blanken Mitgliederverlust der Kirchen, der sich um vieles rascher entwickelt als je zuvor gedacht. Doch hat diese Studie noch um vieles weitergehende Erkenntnisse parat. Eine der zumindest von der Warte einer Religionssoziologie interessantesten ist die statistische Widerlegung einer der gängigsten Annahmen in der aktuellen Religionsdiskussion. Oft wird gerne von der eigentlichen gesellschaftlichen Omnipräsenz religiöser Vollzüge und Vorstellungen ausgegangen, von einer „Religiosität“ oder einer (besser klingenden) „Spiritualität“, nur eben außerhalb der traditionellen Kirchen und Religionen.

Gerade hier lässt die aktuelle Studie sämtliche Illusionen derer, die darin gerne so etwas wie die „Rückkehr der Religion“ sahen, schwinden. Das Segment der in der Studie als „Alternative“ Angesprochenen, die mit dem zumeist sowieso verquasten „Spiritualitäts“-Begriff verbunden wären, vergeht vielmehr mit noch größerer Radikalität, und dazu kommt, dass die Übergänge zwischen kirchlicher und außerkirchlicher Religiosität um vieles enger sind. Demgegenüber steigt die Zahl derer, die nicht nur eine Kirchenferne haben, sondern Religion als für sie nicht mehr notwendiges Orientierungs- und Sozialisierungsmoment erachten – mit noch offenen Konsequenzen für die kommenden Generationen.

Epochaler Wandlungsprozess

Probleme ergeben sich hier auch im Hinblick auf lange hochgehaltene Paradigmen in den christlichen Theologien. Man vermeinte, dem Säkularisierungsparadigma jenes einer sogenannten individualisierten Religion entgegensetzen zu können. Dabei entstand eine Argumentationsfigur, die weite Strecken eines akademischen theologischen, sich als kritisch verstehenden Selbstverständnisses bis heute dominiert: Es gäbe eigentlich ein ungeheures Potenzial, das man nur zu ­heben bräuchte, wenn man nur an hochaktuelle „Spiritualitäten“ und damit verbundene Erwartungshaltungen anknüpfte.
Als Haupthindernis wurde dabei aber der Faktor Institutionalisierung gesehen, sprich die Kirchen selbst, was wiederum in der Diskussion oft dazu führte, dass man einen bequemen Prellbock hatte, dem man die alleinige Schuld an den Entwicklungen zuschreiben könnte. Die regelmäßig wiederkehrenden Diskussionen über die stetig in lichten Höhen schwebenden Kirchenaustrittszahlen etwa in Deutschland oder in Österreich laufen oft nach diesem Schema: Sie enden nämlich zumeist mit dem Hinweis auf die üblichen Stellschrauben, an denen man nur drehen müsste, und plötzlich wäre alles wieder gut.

Die Frage ist nur, ob sich an der Gesamtentwicklung so viel ändern würde, wenn, um bei der katholischen Kirche zu bleiben, Priester plötzlich heiraten, Frauen als Priesterinnen agieren oder sich die Sicht auf Sexualität in aktuelle Neukodierungen einpassen würde. An dieser These lassen sich wohl Zweifel anmelden.

Vielleicht erleben wir gerade den Anbruch eines neuen Zeitalters, eines, in dem Religionen ihre Bedeutung langsam, aber sicher verlieren.

Es geht nämlich möglicherweise um einen vieles umfassenderen, epochalen Wandelprozess. Vielleicht erleben wir gerade den Anbruch eines ganz neuen Zeit­alters, eines, in dem Religionen ihre Bedeutung langsam, aber sicher verlieren. Zweifellos sind die großen religiösen Traditionen faszinierende kulturelle Entwicklungen. Doch haben sie auch ihre Geschichte. Schlicht evolutionsbiologisch gesehen entstanden sie im Laufe der Entwicklung der Menschen unter bestimmten Bedingungen, wie Erkenntnisse der modernen Kognitionsforschung erweisen.

Die aktuell global bedeutsamen sind dann im Wesentlichen zwischen der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. und den letzten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends n. Chr. entstanden bzw. formierten und kanonisierten ihre zentralen Inhalte in diesem Zeitraum. Sie sind mithin auch von den Vorstellungen und Mustern dieser Zeiten geprägt. Mit Momenten einer Individualisierung etwa oder den damit einhergehenden Aspekten einer Freiheit für jeden einzelnen Menschen – eine der großartigsten Errungenschaften unserer Gegenwart – haben sie alle so ihre liebe Not. Die von den Religionen propagierten Freiheiten werden eher als Res­trik­tionen empfunden, deren Sinn nicht mehr vermittelt werden kann – und das erweist sich gerade auch auf einer globalen Ebene.

Der Konflikt etwa mit der islamischen Welt entwickelt sich nicht zuletzt gerade auch an dieser Bruchlinie, und man kann dies alles auch als einen Grundwertekampf interpretieren. Auch die anfangs zitierte Diskussion über den negativen (oder eben nicht) Einfluss von Religionen scheint ja schon Ausdruck einer distanzierten und problematisierenden Sichtweise zu sein. Vielleicht wird man in einer nicht allzu fernen Zukunft auf Religionen als archaisches Relikt einer längst ­vergangenen Zeit zurückschauen. Angesichts historischer Verläufe, aber auch der aktuellen Vorkommnisse kann man sich zumindest eines kurzen Anflugs einer Zustimmung nicht erwehren, selbst wenn man Religion für einen der faszinierendsten Aspekte der Kulturgeschichte der Menschheit hält.

Der Autor ist Professor für Religionswissenschaft an der Uni Graz.

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