Erde - © Foto: iStock/ FG Trade Latin

Warum wir mehr Weniger brauchen

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Nicht nur der Planet, auch soziale Konfliktlagen drohen sich aufzuheizen. Über die hartnäckigen Schwierigkeiten, sich in Reduktion zu üben – und Inspiration aus der Religion.

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Nicht nur der Planet, auch soziale Konfliktlagen drohen sich aufzuheizen. Über die hartnäckigen Schwierigkeiten, sich in Reduktion zu üben – und Inspiration aus der Religion.

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„Die Zukunft war früher auch mal besser“ – Das bekannte Bonmot Karl Valentins bringt eine Gefühlslage zum Ausdruck, die uns aus aktuellen Debattenlagen nicht unvertraut ist: Angesichts der vielfältigen Krisen der Gegenwart scheint die Zukunft ihre beste Zeit hinter sich zu haben. Sie hat ihren Versprechenscharakter weitgehend eingebüßt und ist von dystopischen Zügen geprägt. Heute noch ernstlich zu erwarten, dass die eigenen Kinder es einmal besser haben als man selbst, erscheint als (zwar sympathische, gleichwohl etwas) naive Haltung: Zwischen fortschreitendem Klimawandel und geopolitischen Konfliktverschärfungen traut man sich kaum mehr zu hoffen, dass sie es zumindest nicht viel schlechter haben werden – und das wäre schon viel. „Das Beste kommt noch!“ – Das verkünden heute vollmundig nur mehr die skrupelloseren unter den KI-Gurus oder „Mindset“-Coaches.

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Nicht selten blitzt vor diesem diffus düsteren Horizont ein nicht neuer, doch neu brisanter Topos auf, der angesichts dieser Entwicklungen Abhilfe und Lösung verspricht: „Reduktion!“ So unterschiedlich die Diskurse sind, vielfach erscheinen Formen der Reduktion als Gebot der Stunde wie der Klugheit, als quasi-soteriologischer Topos, gesellschaftlich wie individuell: Politisch wie ökonomisch gilt es, sich auf Postwachstumsszenarien und permanente Personalengpässe einzustellen.

Frage des Fußabdrucks

Gesellschaftlich wie moralisch ist es geboten, den eigenen Fußabdruck zu verkleinern und Ressourcenverbrauch zu minimieren – was heißt: sie universalisierbar zu machen. Und nicht zuletzt für sich selbst gilt es zu lernen, aus der Hamsterrad-Logik des „Immer weiter, immer schneller!“ auszusteigen – und zu entdecken, wo im wirklichen Weniger ein mögliches Mehr stecken kann. Selbst wenn Formeln wie „Small is beautiful“ das Motiv der Reduktion bereits als Verheißung codieren: Die Maxime „Weniger ist Mehr“ fällt uns erkennbar schwer; umso mehr, da das Weniger nicht frei gewählt, sondern von außen aufgetragen ist. Weniger Fleisch, weniger Reisen, weniger Wasserverbrauch, zugleich auch weniger Wachstum, Servicepersonal oder Öffnungszeiten – das mag vielleicht für andere Weltgegenden üblich sein, aber wer Überfluss gewohnt ist, muss doch hart schlucken.

Will man verstehen, warum das Mehr zum gesellschaftlichen Normalmodus wurde, muss man ein Stück Moderne-Theorie treiben. Zumindest eine ihrer Standarderzählungen lässt sich rasch skizzieren: Moderne Gesellschaften stabilisieren sich nicht mehr aus dem Rückwärtigen, i. e. aus Herkunft und Tradition, sondern primär aus der Bewegung nach vorne. Nicht der längere Stammbaum soll über gesellschaftliche Positionen entscheiden, so das emanzipatorische Versprechen, sondern die bessere Leistung auf einem freien, wettbewerbsförmigen Markt – wer besser und vor allem: wer schneller besser liefert, erhält den Zuschlag.

Der populistische Trotz dieser Tage macht das Verteilungsproblem deutlich, das in den immer häufigeren Forderungen nach ‚Weniger‘ schlummert.

Auf diese Weise, so beschreiben es Soziologen wie Hartmut Rosa, sind moderne Gesellschaften grundständig auf Bewegung und Beschleunigung angelegt: Sie stabilisieren sich sozusagen dynamisch. Das Schneller Besser schreibt sich dabei tief in ihre kulturelle Matrizen ein: Das Mehr ist ihre psychosozial wirksame Chiffre. Natürlich mag man einwenden, dass Steigerungslogiken nicht erst seit der Moderne relevant sind; monieren, dass auch in der Moderne das Erbschafts- und Herkunftsprinzip ungebrochen wirksam ist; oder auf kolonialistische Asymmetrien zwischen globalem Norden und Süden hinweisen. Hier aber interessiert die grundsätzliche Dialektik der skizzierten Logik: Das kulturelle Spiel von „Höher, Schneller, Weiter, Mehr“ erschließt nicht nur historisch mehr Freiheitsräume, sondern droht diese zugleich apokalyptisch zu verspielen, wo es jene Ressourcen verbraucht, die für weiteres Wachstum nötig sind – ökologische, soziale, psychische u.a.: Grundlagen, die im Prozess von Wettbewerb und Beschleunigung gleichsam verbrannt werden. Aufs Individuum hin formuliert: Man hat sich zwar etwas aufgebaut, aber ist jetzt innerlich ausgebrannt.

An dieser Stelle wird deutlich, warum Formeln wie Reduktion und Postwachstum wie Lösungsparadigmen erscheinen müssen– und zugleich erkennbar, warum beides offenkundig eine so schwierige Übung ist: Man müsste dafür tief verankerte kulturelle und psychosoziale Codes überschreiben. Als persönliche Lebensstil-Entscheidung mögen Reduktion, Konsumverzicht, Minimalismus attraktiv sein – aber als gesellschaftliche oder gar politische Leitmotive? Können Gesellschaften, die sich wesentlich über Expansion und Wachstum stabilisieren, auch da robust bleiben, wo Reduktion im Raum steht? Mehr noch: Steht nicht sogar der Verdacht im Raum, dass sie es nur konnten, solange ihre Zukunft im Grunde rosig war und dass ihre Liberalität an Schubkraft verliert, sobald die Aussichten düsterer werden?

Der populistische Trotz macht jedenfalls das Verteilungsproblem deutlich, das in Reduktionsforderungen schlummert: Man will und kann es zwar nicht lösen, wohl aber für sich nutzen– immerhin zur Mehrheitsbeschaffung mag es taugen. Nicht nur der Planet, auch die sozialen Konfliktlagen drohen sich entsprechend aufzuheizen und Kipp-Punkte zu erreichen. Auch wenn es noch nicht so weit ist, erhält man damit einen Vorgeschmack, was mit auf dem Spiel steht: nichts weniger als das demokratische und liberale Zueinander in unseren Gesellschaften.

Man mag hier seine Hoffnung ganz auf technologische Transformationen setzen, die entsprechende Reduktionszumutungen durch disruptive Innovation entschärfen sollen. Aber es scheint nicht redlich, sich allein darauf zu verlassen: Es wird vielmehr alle Anstrengungen brauchen, um Gesellschaften auf Nachhaltigkeit zu polen und entsprechende Spannungen zu moderieren – auch die Anstrengungen der Kirchen.

Christliche Weisheit

Freilich sind diese aktuell mit ihrem eigenen Kleiner-Werden beschäftigt, und auch ihre besten Impulse entfalten nur mehr bedingt kulturelle Leuchtkraft. Dennoch halten sich im Glauben Perspektiven lebendig, die in den genannten Transformationen bedeutsam sein können, nicht zuletzt weil die Herausforderungen so groß sind, dass man wahlweise resignativ oder zynisch werden könnte. Der Begriff des „Activist Burnout“, der u. a. in Klimaschutzkreisen verwendet wird, ist Ausdruck dieses Problems: die Gefahr, sich angesichts der übergroßen Problemlagen und permanenten Dringlichkeit zu erschöpfen. Wer sich in dem, wie er leben will, einzig von den überlebensgroßen Problemen bestimmen lässt, gerät notwendigerweise in einen Strudel dauernder Überforderung.

Genau hier setzt die christliche Tradition auf eine Reduktion anderer Art: nämlich was Erwartungen an sich selbst betrifft. „Ich glaube“, schreibt etwa Ignatius von Loyola 1555, „dass ihr euch dazu entschließen solltet, in Ruhe das zu tun, was ihr tun könnt. Kümmert euch nicht um den Rest; überlasst der göttlichen Vorsehung, was ihr selbst nicht bewerkstelligen könnt.“ Das ist mitnichten ein Kleinreden unseres Handelns, aber es enthält eine human realistische Perspektive darauf.

Wenn der Beitrag des Glaubens dieses menschenfreundliche Gottvertrauen ist, wäre damit viel gewonnen. Denn die Erinnerung daran tut immer Not – ganz gleich, wie viel besser die Zukunft schon mal gewesen sein mag.

Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Universität Salzburg sowie Leiter der Salzburger Hochschulwochen.

Veranstaltung

Reduktion! Warum wir mehr Weniger brauchen.

Salzburger Hochschulwochen, 31.7.–6.8.2023
Programm & weitere Infos
unter www.salzburger-hochschulwochen.at

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