Zielstrebigkeit - Bunte Zeichnung von Menschen, die sich an die Spitze arbeiten. 

Ewige Selbstoptimierung: Das neue „Höher, schneller, weiter“

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Das Streben nach dem besseren Ich lässt Politikwissenschafter Michael Girkinger ein ganzes Buch füllen. Über Ursachen, Chancen und Fallen eines Phänomens mit großer gesellschaftlicher Bedeutung.

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Das Streben nach dem besseren Ich lässt Politikwissenschafter Michael Girkinger ein ganzes Buch füllen. Über Ursachen, Chancen und Fallen eines Phänomens mit großer gesellschaftlicher Bedeutung.

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„Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, was man am Anfang nicht war.“ Dieser Satz von Michel Foucault findet sich im vor Kurzem erschienen Buch „Alles. Immer. Besser. Licht und Schatten der Selbstoptimierung“ des Politikwissenschafters Michael Girkinger. Der Wunsch nach Selbstentwicklung gehöre zum Leben, doch „das Leben, soviel ist sicher, ist viel bunter und interessanter, als es die Ratgeber oder Businessmagazine darstellen“, ergänzt Girkinger. Damit ist der Rahmen des Buches umrissen.

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Der Autor beschreibt Selbstoptimierung als ambivalentes Gesellschaftsbild. Der Mensch als Mängelwesen sei darauf angewiesen, sich zu entwickeln, zu lernen und zu üben. Im positiven Sinn gehe es darum, besser mit sich selbst zurechtzukommen. Das gelinge nicht immer und nicht allen. Rund 1,2 Millionen Menschen in Österreich sind von einer psychischen Krankheit betroffen, zitiert Girkinger eine Studie aus dem Jahr 2019. Die Corona-Pandemie habe die Lage verschlimmert und als „Brandbeschleuniger der Einsamkeit“ gewirkt. Dazu kämen die Klimakrise, der Krieg gegen die Ukraine, die Energiekrise und Teuerung als neue kritische Gemengelage. „Die größten Sorgen bereiten jungen Menschen zwischen zwanzig und vierzig Jahren die steigenden Lebenshaltungskosten und die Klimakrise“, so eine weitere Studie zu Österreich aus dem Jahr 2022.

Es sei daher legitim und notwendig, sich Sorgen zu machen und nach besseren Wegen in die Zukunft zu suchen, meint Girkinger: „Wir alle bewegen uns im Spannungsfeld zwischen dem, wie die Dinge liegen, und dem, wie wir sie gerne hätten.“ Die Werbung sowie die Selbstoptimierungsbranche blendeten jedoch gesellschaftliche Umstände aus: „Glück, so wird suggeriert, ist machbar: durch Konsum, Wellness, trendige Lifestyles oder die Arbeit am Selbst.“ Sich selbst anzunehmen mit den Stärken und Schwächen, werde ignoriert. Vielmehr laute die Botschaft: „Du musst dich mit deiner defizitären, unvollkommenen Persönlichkeit oder Situation nicht abfinden. Wenn du willst, ist (fast) alles möglich. Oder zugespitzt: Es gibt Heilung durch Optimierung.“ Diese Appelle zur Selbstverbesserung sowie die Versprechen rascher Erfolge führten jedoch in die Irre. Denn das „glatte Leben“ gebe es nicht.

Mit der Soziologin Anja Röcke unterscheidet Girkinger vier Formen der Selbstoptimierung. Erstens: Befolgung spezifischer Handlungsanleitungen mit Bezug auf Körper, Psyche und die Alltagsgestaltung. Zweitens: Konsum spezifischer Stoffe wie Medikamente oder Stimulanzien; als Graubereich würden hier laut Röpke Nahrungsergänzungsmittel gelten. Drittens: Beeinflussung der körperlichen Erscheinung, vor allem durch Schönheitsoperationen.

Girkinger kontrastiert den Mythos vom perfekten Leben mit den Zumutungen einer stressiger werdenden Arbeitswelt sowie den medial vorgegaukelten Idealwelten.

Als Graubereich nennt Röpke hier Training, Fitness und Ernährung. Schließlich viertens: Technisch basierte Formen der Vermessung, Modifizierung oder Ergänzung des Körpers und der Psyche, etwa durch den Einsatz von Trackinggeräten und Prothesen oder durch genetische Eingriffe. Diese Techniken seien nicht generell schlecht, es komme aber auf den Kontext an. Die Gesundheit zu stärken oder sich durch Selbstvermessung im Sport voranzubringen, mache Sinn, ein chirurgischer Eingriff könne das Selbstwertgefühl steigern – die Grenzen zur vom neoliberalen Wirtschaftssystem geforderten Effizienz- und Leistungssteigerung seien aber fließend, so Girkinger. Und da es hier allesamt um Aufmerksamkeitsmärkte gehe, spielten selbstverständlich kommerzielle Interessen der Anbieter eine wichtige Rolle.

Drei große Ängste der Gegenwart

Girkinger kontrastiert den Mythos vom perfekten Leben auch mit den Zumutungen einer stressiger werdenden Arbeitswelt sowie den medial vorgegaukelten Idealwelten. Seit Langem führen nicht mehr alle Menschen in einem Fahrstuhl nach oben, sondern immer mehr befänden sich auf einer Rolltreppe, die nach unten führe. Die „Tyrannei der Leistungsgesellschaft“ sei Ausdruck des Selbstoptimierungszwangs und zugleich dessen Beschleuniger. Mit dem Soziologen Heinz Bude macht Girkinger drei „große Ängste unserer Zeit“ aus: die Angst, nicht zu genügen; die Angst, etwas zu verpassen; und die Angst, sich selbst zu verfehlen. „Wenn wir nur richtig lieben, leben und arbeiten würden, dann wären wir in unserer Potenzialentfaltung dort, wo wir die Autor(inn)en (der Ratgeberbücher, Anm. d. Red.) bereits wähnen“, fasst Girkinger die Botschaften des Selbstoptimierungsmarktes zusammen und analysiert zahlreiche Beispiele dazu. Im Vergleich zu den sich anpreisenden Coaches erscheine das eigene Leben jedoch gewöhnlich und fehlerhaft. Das angeratene Fortschrittsprogramm führe zwangsläufig zu einem „Energieproblem“: Man könne nicht alles schaffen und fühle sich dann schlecht. Dazu komme die Angst, etwas zu verpassen, wie ein bekannter Reiseführer formuliert: „1000 Places to See Before You Die“. Doch: „Je mehr Optionen wir haben, desto schwieriger wird das Abwägen der richtigen Wahl und Entscheidung.“

Die Angst, sich selbst zu verfehlen, habe seine Ursache schließlich im Hype um das Streben nach Veränderung. Dies führt Girkinger zur Persönlichkeitsbildung, einem Kristallisationspunkt des Selbstoptimierungsmarktes, dem richtigen „Mindset“, das einen beruflich wie privat zum Erfolg führe. Die Persönlichkeitsentwicklung sei nie abgeschlossen, und Veränderung brauche Zeit, die Ratgeberliteratur und Coachingszene verspreche aber raschen Erfolg. Zudem sei zu fragen, ob es Sinn mache, seine Persönlichkeit zu verändern. Vielleicht bestehe die Kunst vielmehr darin, „sich so zu akzeptieren, wie man ist“. Zudem würden bei Optimierungsangeboten in der Regel die gesellschaftlichen Bedingungen ausgeblendet. Glück und Erfolg seien nur eine Frage der Lernwilligkeit und inneren Einstellung. Das Versprechen: „Mit dem richtigen Training können ungeahnte Potenziale entfaltet werden.“

Die Fallen des Marktes

Girkingers Buch ist kein Ratgeber für die richtige Persönlichkeitsentwicklung und das passende Verhalten. Seine Stärke liegt darin, dass es den Wunsch und Sinn von Selbstentwicklung durchaus ernst nimmt, unter Bezugnahme auf zahlreiche Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie und Psychologie, aber die Fallen des Selbstoptimierungsmarktes aufzeigt. Der Trend zur Selbstverbesserung sei dabei, so Girkinger, nicht auf eine einzige Variable wie den Neoliberalismus zurückzuführen. Die Vermarktlichung der Alltagskultur habe ihre eigensinnigen wirtschaftlichen, technologischen und soziokulturellen Ursachen, die sich keiner klaren politischen Verantwortung zuschreiben lassen: „Menschen optimieren sich, weil Strukturen sie dazu nötigen, weil sie neugierig sind, weil es Selbstbestätigung oder Vorankommen verspricht, aufgrund verinnerlichter Wertmaßstäbe oder einfach, weil es technisch möglich ist.“

Zum Schluss doch noch ein Ratschlag: Veränderung brauche Zeit, Ausdauer, Geduld und ein passendes soziales Umfeld, meint Girkinger. Die Beliebtheit schneller Lösungen etwa in Form von „10 Tipps für …“ zeige, dass es uns manchmal schwerfalle, „das Leben mit all seinen Schattierungen anzunehmen“. Doch auch das könnte man als Optimierung begreifen: „Sich auf all diese Erfahrungen einzulassen, sie als Teil der Lebensfülle zu erkennen und anzunehmen.“ Daher sei es verkehrt, flächendeckend mentale Selbstoptimierung zu verschreiben, „ohne dabei vom konkreten Menschen und seinen Erfahrungen auszugehen und sich zu fragen, was Verbesserung da, wo dieser Mensch steht, konkret bedeuten kann“.

Der Autor ist Senior Adviser der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg.

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