Warum die Krawalle in Brasilien ein Alarmsignal für Europa sind
Brasílias „Platz der drei Gewalten“ ist Anfang des Jahres zur Vandalismus-Bühne degradiert worden. Warum die Ausschreitungen der Bolsonaristen auch für europäische Gesellschaften ein Alarmsignal sind.
Brasílias „Platz der drei Gewalten“ ist Anfang des Jahres zur Vandalismus-Bühne degradiert worden. Warum die Ausschreitungen der Bolsonaristen auch für europäische Gesellschaften ein Alarmsignal sind.
Wenn am Ende des soeben begonnenen Jahres die Rückblicke auf 2023 verfasst werden, ist die brasilianische Hauptstadt darin mit Sicherheit vertreten. Die Szenen, die sich dort am Nachmittag des 8. Jänner ereigneten, dokumentiert durch zahllose Video-Sequenzen vor allem in Sozialen Medien, sind so eindringlich wie verstörend: Ein furioser Mob von tausenden Personen, Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro – gekleidet in den Landesfarben, gehüllt in Flaggen –, die Parlament, Präsidentenpalast und Obersten Gerichtshof stürmen und eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. Sie selber nannten es einen Protest. Gegen die Wahlen im Oktober, die sie, obwohl es dafür keinerlei Hinweise gibt außer dem aufrührerischen Mantra Bolsonaros bereits im Vorfeld, noch immer für „gestohlen“ halten.
Dabei freilich richteten sie sich gegen viel mehr: Offenbar brach sich abgrundtiefer Hass die Bahn, der weit über die Person des neuen, linken Präsidenten Lula da Silva hinausreicht. Wofür aber demonstriert eine Menge, die sich als patriotisch, als Verteidiger ihres Landes versteht, wenn sie dessen höchste demokratischen Institutionen angreift? Wie dienen sie „Deus, Pátria e Família“, jenem Motto, das in den 1930ern zur rhetorischen Grundausstattung des „Integralismo“, des brasilianischen Faschismus, gehörte, wenn sie das Machtzentrum des gleichen Landes zur Bühne degradieren für eine Orgie ihres selbstverliebten Vandalismus? Und was steht am Ende eines solchen Weges? Die Rückkehr zur Diktatur?
Erwartbarer „Capitol“-Moment
Dass man im Nachgang allerlei Parallelen mit dem Kapitol-Sturm zog, liegt auf der Hand. Nicht nur weil dieser fast auf den Tag genau zwei Jahre zuvor stattfand. Dramaturgie, Konstellation und Inhalt ähneln sich zweifellos, wenn auch die Inauguration des neuen Präsidenten in Washington noch bevorstand, Lula da Silva hingegen exakt eine Woche zuvor mit einem Festakt sein Amt angetreten hatte. Es gibt weitere Unterschiede: Während die US-amerikanische Variante eine durchaus lebensgefährliche Situation für anwesende Abgeordnete darstellte, trafen die Bolsonaristen in den gestürmten Gebäuden keine Vertreter des verhassten Systems an.
Dafür fand ihr Angriff auf breiterer Front statt: Nicht nur der Kongress war das Ziel, auch Oberster Gerichtshof und Präsidentenpalast. Ein symbolisch bedeutsames Detail: Alle drei liegen an der „Praça dos Três Poderes“, dem Platz der drei Gewalten. Vor allem aber war das, was umgehend der brasilianische CapitolMoment genannt wurde, eine beinahe erwartbare Wendung in der Eskalations-Dynamik, der Bolsonaro samt Entourage während seiner Amtszeit und vor allem in den letzten Monaten rhetorisch den Weg ebneten.
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