Schäuble - © Foto: APA / AFP / Pool / Hendrik Schmidt

Wolfgang Schäuble, der laut denkende Adlatus

19451960198020002020

Wolfgang Schäuble, längstdienender Abgeordneter aller deutschen Nationalparlamente seit der Paulskirche, wird 80 Jahre alt. Über einen (politischen) Überlebenskünstler.

19451960198020002020

Wolfgang Schäuble, längstdienender Abgeordneter aller deutschen Nationalparlamente seit der Paulskirche, wird 80 Jahre alt. Über einen (politischen) Überlebenskünstler.

Werbung
Werbung
Werbung

Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, soll Wolfgang Schäuble seine Frau beruhigt haben, als er 1972 erstmals für den Deutschen Bundestag kandidierte, er werde eh nicht gewählt. Doch der gebürtige Freiburger und frischgebackene Finanzbeamte errang aus dem Stand ein Direktmandat in seinem Wahlkreis, dem badischen Offenburg, und zog nach Bonn. Im „FC Bundestag“, der fraktionsübergreifenden Fußballmannschaft, profilierte der 30-jährige Schäuble sich bald als starker, schneller Spieler, Position: Rechtsaußen.

Navigator - © Die Furche

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Zu Schäubles Bild in der Öffentlichkeit gehört heute der Rollstuhl, den er seit dem Attentat von 1990 zur Fortbewegung benötigt. Da könnte man glatt vergessen, wie sportbegeistert er zeitlebens war: nicht nur Fußball-, auch Tennisspieler, Läufer, Skifahrer und ab 1976 sportpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. In dieser Funktion erwog Schäuble den ärztlich kontrollierten Einsatz gewisser „Mittel“, damit westdeutsche Leistungssportler „in der Weltkonkurrenz“ mithalten könnten. Merke: Wer den Sieg bezweckt, darf nicht vor Denkverboten zurückscheuen. Heute lehnt Schäuble, der am 18. September 80 Jahre alt wird, Doping ab.

Spendenaffäre als Stolperstein

Er selbst war stets bereit, in der politischen Arena sein Bestes zu geben. Als führendes Mitglied der „Kampfgruppe Kohl“ hatte Schäuble gewichtigen Anteil daran, dass der Pfälzer die Macht in der Bundes-CDU und 1982 auch in der Bundesrepublik eroberte. Helmut Kohl dankte es seinem Getreuen, indem er ihn zum parlamentarischen Geschäftsführer seiner Partei und später zum Chef des Bundeskanzleramtes machte. Schlank und agil wirkt Schäuble auf Archivbildern aus jener Zeit, geradezu schmächtig neben dem Mann, an den er auf Gedeih und Verderb sein politisches Schicksal kettete. Dass Kohl Kanzler wurde, wollten damals viele, auch manche Herren der deutschen Industrie. Namentlich der Flick-Konzern hatte sich, wie ab 1980 ruchbar wurde, die „Pflege der Bonner Landschaft“ viel Geld kosten lassen. In dieser leidigen Affäre fiel Schäuble die Aufgabe zu, seinem Chef den Rücken freizuhalten. Wenn er sich dabei, wie er selbst rückblickend formulierte, „die Hände ein bisschen schmutzig“ machen musste, nahm er das in Kauf. Für Schäuble gehörte das ebenso zum politischen Geschäft wie unbedingte Loyalität dem Kanzler gegenüber.

Wie schmutzig Kohls eigene Hände waren, sollte erst viel später ans Licht kommen. Mit seiner Loyalität half Schäuble, ob wissentlich oder nicht, ein raffiniertes System illegaler Geldbeschaffung zu decken, das der Pfälzer über Jahrzehnte hatte aufbauen lassen, um sich im Kampf gegen die politische Konkurrenz den Sieg zu sichern. Ende der 1980er Jahre kämpfte Kohl freilich gegen den Abstieg, gegen lautstarken Widerstand in der Gesellschaft und der eigenen Partei, dazu mit allerhand Affären. Doch dann passierte das Unverhoffte: Die Mauer fiel, und Kohl ergriff beherzt seine historische Chance. Wieder konnte er dabei auf seinen Adlatus zählen. Inzwischen Innenminister, handelte Schäuble binnen Monaten den Einigungsvertrag aus. Bei einer Wahlveranstaltung am 12. Oktober 1990 schoss ihn ein psychisch kranker Attentäter nieder. Schon nach wenigen Wochen saß er wieder auf dem Podium – von da an im Rollstuhl. Weitermachen wurde für Wolfgang Schäuble zur Überlebensfrage. Die Selbstdisziplin des Sportlers half ihm dabei, ebenso der Rückhalt der Familie – und des Kanzlers.

Doch dann passierte das Unverhoffte: Die Mauer fiel. Inzwischen Innenminister, handelte Schäuble binnen Monaten den Einigungsvertrag aus.

Doch während für Kohl sich Politik immer mehr darauf reduzierte, seinen historischen Ruhm in Wahlerfolge umzumünzen, dachte Schäuble weiter – und laut nach: etwa über eine Stärkung des Staates durch mehr Überwachung oder ein „gesundes“ Nationalgefühl der Deutschen, dem auch die Verlegung der Hauptstadt von der rheinischen in die brandenburgische Provinz dienen sollte, aber auch über eigentlich Undenkbares wie die Erhöhung der Mineralölsteuer im Zuge einer ökologischen Steuerreform. Damit brachte Schäuble nicht nur Kohls Koalitionspartner, die FDP, in Rage, sondern auch viele wahlberechtigte Autofahrer und den Kanzler selbst. Der inthronisierte seinen langjährigen Getreuen gleichwohl als „Kronprinzen“, vielleicht mit dem Hintergedanken, dass ein Mann im Rollstuhl ihm nicht wirklich gefährlich werden könnte.

Gefährlich wurde es für Kohl erst nach der verlorenen Wahl von 1998, bei der er sich noch einmal den Vortritt vor seinem Schützling gelassen hatte: Am 3. November 1999 erließ die Staatsanwaltschaft Augsburg Haftbefehl gegen den früheren CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep. Das war der Beginn der sogenannten Spendenaffäre, die das System Kohl über Nacht zum Einsturz brachte. Dass dabei auch Schäuble unter die Trümmer geriet, scheint der Pfälzer nicht nur billigend in Kauf genommen zu haben. Die lachende Dritte hieß Angela Merkel.

Für Schäuble war die mutwillige Zerstörung seiner politischen Existenz womöglich noch schmerzhafter als jener Moment, da er nach dem Attentat von 1990 aus dem künstlichen Koma erwachte und wusste, dass er nie wieder würde gehen können. Doch wieder gelang ihm ein – letztlich noch unwahrscheinlicheres – Comeback. 2005 berief Merkel Schäuble als Innenminister in ihre erste Regierung, wo der Badener bald erneut durch lautes Nachdenken darüber auffiel, wie man den Staat gegenüber seinen Bürgern stärken könne, etwa durch Überwachung ihrer Computer, den Einsatz der Bundeswehr im Innern oder notfalls auch die präventive Tötung von Terroristen.

Seine Mission: Die Rettung des Euro

Es hagelte Kritik. Schäuble steckte sie scheinbar gleichmütig ein, und Merkel muss gedacht haben, dass ihn solche Todesverachtung für einen aussichtslosen Posten qualifizierte: den Job des Finanzministers nach der Lehman-Pleite. Ab 2009 kämpfte Schäuble darum, ausgerechnet Kohls letztes Vermächtnis an die Deutschen, den Euro, zu retten. Abermals kämpfte er mit allen Mitteln und Listen, die ihm nach einem langen Politikerleben zu Gebote standen. Dass er dafür von fast allen Seiten geschmäht wurde, von den griechischen Bürgern bis zu den Besitzern deutscher Sparbücher, schien ihn nicht anzufechten, ja man hatte den Eindruck, als habe er trotz aller sichtlichen Strapazen Spaß an der Sache. Während sein einstiger Chef zu einem von seiner Familie isolierten Pflegefall geworden war, genoss Schäuble als Primus inter pares der Euro-Gruppe eine Machtfülle, wie sie zu Kohls Regierungszeit für einen deutschen Finanzminister undenkbar gewesen wäre.

2017 hatte Schäuble als Minister ausgedient. Vier Jahre durfte er sich noch als Bundestagspräsident mit der AfD herumschlagen, deren Aufstieg weder seine noch Merkels Politik hatte verhindern können. In gewisser Weise war dieses Amt die Krönung von Schäubles Karriere, ist er doch seit seinem Einzug in den Bundestag vor fast fünfzig Jahren mit Leib und Seele Parlamentarier – und inzwischen der längstdienende Abgeordnete aller deutschen Nationalparlamente seit der Paulskirche. Da wirkt es nur folgerichtig, dass der Überlebenskünstler das Direktmandat ausübt, das er 2021 zum 14. Mal in Folge – wenn auch mit zuletzt deutlich weniger Stimmen – in seinem Wahlkreis errungen hat. Auch seine Frau dürfte inzwischen gut damit zurechtkommen. Von einem Biografen auf den Beruf ihres Mannes angesprochen, sagte Ingeborg Schäuble vor einigen Jahren: „Jedes Leben ist lebenswert. Für uns alle ist es ganz wichtig, dass er da ist. Aber ich denke, auch für ihn ist das ganz schön.“

Navigator - © Die Furche

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung