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20 Jahre Cannes

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Rundfunk, Film und Fernsehen haben im Inneren unserer kleinen Welt die Grenzen auf gehoben, die früher Unkenntnis, kleinfürstentüm- liche Engstirnigkeit, nationaler Chauvinismus und ähnliche Unverhältnisse aufgerichtet und gehalten haben. Sie bringen nun die ganze Weite der Welt zu uns; sie erweitern unseren Blick für die Schönheit und Mannigfaltigkeit der Welt; sie machen allen alles zugänglich. Eine schöne und beglückende Feststellung, die wir seit Jahren hören und uns gerne einreden, in bester Absicht und Erkenntnis fundamentaler Wirkungszusammenhänge. Die Einigung der Welt im empfindenden und erkennenden Menschen und dadurch die Aufhebung der Not, die Bezwingung des Hungers, die Befreiung aus Zwang und Druck: eine prachtvolle Illusion der Zukunft, das geistige Nährbrot von Idealisten. Auch die Cineasten nähren sich gerne vom gleichen. Nicht zuletzt darum kommen sie alljährlich zu den großen Treffpunkten des Films und der Filmwelt, an denen sich die Machtlinien der Manager mit den Richtungsstrahlen der Kunst und den Leitlinien der Weltanschauungen und politischen Ideen kreuzen — oder divergieren.

Der Film als Medium stärkster Wirkung infolge seiner optisch-akustischen Eindringlichkeit und Beladung mit Information, Emotion und Manipulation zeigt seismogra- phisch empfindlich die leisen und lauten Erschütterungen des Gefüges unserer Welt — aber nicht in der Einseitigkeit einer gequollenen soziologischen Seinsbetrachtung. Man übersieht Wesentliches, wenn man behauptet, daß der Film aus der Gesellschaft hervorgehe und in sie zurückfließe. Formulierungen dieser und ähnlicher Art muß aus der Wirklichkeit der filmkritischen Betrachtung entgegengetreten werden, weil sie aus der verengten geistigen Welt einer Geschichtsbetrachtung kommen, die häufig den Begriff der Gesellschaft auf Gebilde anderer Art anwendet. Gerade im Film erkennt man — so man der natürlichen Eröffnung aus Bild und Wort nicht ausweicht — im einzelnen Kunstwerk immer wieder den freien Spielraum und den Bereich des Schöpferischen, der aus der ureigensten inneren Welt des Individuums kommt und nur bedingt oder nicht dem Dialog zwischen der gesellschaftlichen Situation des Filmschöpfers und des Rückwirkens aus der Gesellschaft verpflichtet ist.

Deshalb ist es notwendig, bei einem Festival wie in Cannes, das heuer seinen 20. Geburtstag feiert und deshalb die großen alten Männer des Films zusammen mit der jungen zum festlichen Treffen einlud, hinter die Superlative der Werbung zu schauen und die Auswah von Filmen im offiziellen Programn: von 19 Ländern darauf .-kritisch zv prüfen, wieweit sie kunstgeformter Ausdruck menschlicher Hoffnungen Träume, Empfindungen und Irrtümei sind, im Kaleidoskop von Poesie unö Realismus, von Komödie und Satire oder düsterem Schrecken geboten.

Ob es als Symptom gewertet werden darf, daß heuer in Cannes im Vergleich zu vorausgegangenen Festivals der Humor in breiter Fronl und in vielen Schattierungen überwog, werden die nachfolgender FUmtreffen von Berlin, Venedig und anderen Orten klären. Die satirisch Sozialkritik von Pietro Germi, di zur Hälfte die „Goldene Palme” zugesprochen erhielt, zählt ebenso zu dieser Gattung wie der geistig bedeutungsvolle und deutungsschwierige Film von Pasolini über die großen und kleinen Vögel. Ihr gehören auch an so verschiedene Leistungen wie eine englische, völlig frei schaltende Satire auf alle Agentenfilme eine italienische Produktion, die irr Ritterkostüm des frühen Mittelalters über alle Stränge der stilistischer Bindung schlägt, die englische Darstellung eines pathologischen Individualismus, die einmal zur Befriedung in der Anstalt, ein andermal zur unerwarteten kritischen Überprüfung der Werte eines bindungslosen Lebens führt. Die „Goldene Palme” von Cannes wurde zur Hälfte einem französischen Film zuerkannt, der durch seine Integration von Gestaltung, Darstellung und Deutung einer entstehenden menschlichen Bindung erfreute. Dem gleichen Film gab wegen der echten Menschlichkeit und deliziösen Zartheit auch die Jury des OCIC ihren Festivalpreis.

Die überzeugende Umsetzung des Gehaltes von Knut Hamsuns Roman „Hunger” in die filmische Form gelang einer dänischen Produktion durch die Genauigkeit und Härte der Regie und die bezwingende Darstellung des Schauspielers Oscarsson, dem zurecht die Auszeichnung für die beste Darstellung einer männlichen Rolle zuerkannt wurde. Im Programm fehlte auch nicht jener Teil unserer Welt, der sich schwer von Krieg und Partisanentum löst. Junge Filmkunst brachte Deutschland in zwei Beiträgen. Auch diese wie manche andere Beispiele zeigen die Freiheit einer Kunstentfaltung, die im Film nicht nur das zwanghafte Abbild einer Gesellschaft und ihrer sozialen Bindung schafft, sondern auch ein persönliches Werk, in dem sich Strömungen mit dem Geist des Autors verbinden, und in der Kristallisation rein oder getrübt, je nach Beeinflussung, auf der Leinwand erscheinen.

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