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Heute beginnt die Filmgeschichte „Matthäuspassion“ — das erste Oratorium im Film

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Wie Carl Jaspers in einem seiner neuesten Bücher die These wagt, daß die Weltgeschichte erst heute, mit uns, beginne, so könnte man mit ähnlichem Recht behaupten, daß erst mit diesem Film — „Matth aus passio h“, ein österreichischer Film von Ernst Marischka, zur Musik "(Leitung: H. Karajan) von Johann Sebastian Bach — die Geschichte des Films beginne und alles vorher nur ein Tasten und Suchen gewesen sei. Dieser Film entdeckt, zur Reportage und Montage, eine dritte Dimension, er verkörpert die denkbar nächste Nähe zur Kunst und auf dem Umweg über die Musik und Malerei zur Religion.

Die Beziehungen zwischen Film und Musik sind uralt, älter als der „Tonfilm" im strengen Sinn des Wortes, und im ganzen heute schon ziemlich klar erkannt. An dieser Stelle wurde kürzlich behauptet, daß die Musik, die transzendenteste der Künste, die vornehmste Mittlerin in der seit einigen Jahren beobachteten auffälligen Begegnung des Films mit dem Übersinnlichen sei. Die nie verstummten Bemühungen um eine Filmoper, die ansehnliche Höhe der modernen Filmmusikillustration, die zahlreichen musikerbiographischen Filme, die vielbemerkten Wiener „Musikfilme" aus jüngster Zeit, vor allem aber der zeitliche Zusammenfall des aufkommenden Musik- und religiösen Films beweisen dies. Nur einen scheinbaren Widerspruch bedeutet es dabei, daß sich der Film nicht selten auch mit Haut und Haaren dem Rhythmus und der grellen Farbe des Jazz verschreibt; denn der kultische Ursprung gerade dieser Musikart, die wir freilich zumeist nur in der „zivilisierten" (?) Zwischen-, Um- und Abformung durch die weißen Völker kennen und zu beurteilen pflegen, ist, so' erschreckend diese Feststellung für manchen auf den ersten Blick sein mag — trotz allem! — evident. In dieser unverkennbaren Gesamttendenz zum Transzendenten bedeutet der Film „Matthäuspassion" ein vorläufig höchsterreichbares Ziel. Hier ist die Musik völlig gleichgesetzt mit Kult, und Kunst nur ein besonderer Ausdruck von Religion. Musiker und Priester, denen dieser Film bisher gezeigt wurde, haben ihn denn auch übereinstimmend eine religiöse Dokumentation, ein Gebet genannt, zu vergleichen nur mit der Inbrunst der musikalischen Schöpfung der „Matthäuspassion“ selber, an der im Laufe der Jahrhunderte vielleicht da und dort die zeitbedingte Ekstatik und das rein philologische Gerüst des Wortes leise altern konnte, nicht aber das gottnahe Empfinden Johann Sebastians.

Die geheimnisvollen Fäden zwischen Fifen und Malerei (auch Graphik, Plastik) dagegen sind noch tief im Dunkeln. Joseph Gregor hat einmal daran gerührt, als er („Die Kunst des Films“) das Prinzip des bewegten Bildes bis zu den Phasenfelszeichnungen im oberen Niltal zurückführte. Auch in dieses Dunkel hat der Film „Matthäuspassion" Licht gebracht. Das Wagnis, die Handlung des Films ausschließlich durch Wiedergabe von Meistergemälden und Skulpturen vorwä'rtszutreiben, ist an sich nicht ganz neu: Curt Oertel hat es vor etwa einem Jahrzehnt in seinem

„Michelangelo" versucht. Was für einen gewaltigen Schritt vorwärts aber bedeutet darin der Film „Matthäuspassion“! Es ist nicht nur, daß hier eine virtuose Technik des An-, Ab- und Ausleuchtens bisher verborgene Details und Eigenschaften (Schönheiten wie Dämonien: etwa der Fratzen Hieronymus Boschs in der Judas-Szene) der alten Meister „ans Licht brachte“, so daß anerkannte Künstler und Kunsthistoriker über die „Entdeckungen" dieses Films ge radezu verblüfft waren; es entstand darüber hinaus durch Überblendungen und Schnitt ein eigentümlicher Fluß der Handlung, in der Ruhe maßvoller und in der Bewegung stellenweise erregter als alle nur denkbar möglichen Akzente beim Spiel lebender Künstler. Dabei gelang dem Schöpfer des Films an mehreren Stellen, so bei dem Bu- kolikon des Weihnachtskreises und dem Tod der Märtyrer, eine bei Bach in keiner Weise vorgezeichnete selbständige Deutung, die im besten Sinne schöpferisch zu nennen ist.

So entstand in idealem Zusammenwirken der Nachschöpfer des Bildes und des Tones (Dirigent, Klangkörper und Solisten von hohem Rang und Namen gaben ihr Bestes) ein eigenschöpferisches Kunstwerk, das in der ehrenvollen österreichischen Chronik, ja in der ganzen Geschichte des Films, ohne Beispiel ist. Es ist nicht wünschenswert, daß ihm, nach einer alten Unsitte des Films, eine ganze Reihe mehr oder minder glücklicher Nachahmungen, eine Serie Hollywooder Passionen und Oratorien, folge. Auch einsam und ohne unmittelbare Nachfolge hat dieser Film seinen Platz, und das Neue, das er bringt, ist neu und stark genug, um ein ganzes weiteres halbes Jahrhundert der Filmentwicklung künstlerisch und ethisch zu befruchten, ja entscheidend zu beeinflussen.

Noch zweimal in der vergangenen Woche begegnet der Film schwesterlichen Künsten, diesmal klassischen Werken der Weltliteratur. Beiden Filmen gebührt Achtung und Anerkennung — auch für die nur halbe Strecke auf dem Wege zur Vollendung, Wie sie mutig gegangen sind.

„Bergkristal 1", eine Produktion österreichischer Avantgardisten, hat Stifter- Atmosphäre im Mut zur natürlichen Kulisse und stimmungsvollen Details; sie rutscht auf Ganghofer-Niveau ab in leisen Konzessionen des Drehbuches an den Massengeschmack und vereinzelten Dilettantismen des Spieles. — „Begegnung mit Wer th e r", ein deutscher Filmbeitrag zum Goethe-Jahr, spricht am stärksten von zwei großen Darstellerleistungen, am schwächsten von der stofflichen Gestaltung durch einen bekannten Theaterfachmann an.

In allen drei Filmen hat sich das künstlerische Wollen und zum Teil auch Können ihrer Schöpfer bewährt. Es steht noch aus, wie weit ihnen das Publikum Gefolgschaft leisten wird und sich damit auch seinerseits bewährt.

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