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„Das Gewand“

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Oder: Die Geburt der Tragödie des Films

Die Wiener Besucher des Cinemascope-Films „Das Gewand", die jetzt mit einjähriger Verspätung die Sensation der vorjährigen Venediger Biennale nacherleben dürfen, sind in Verlegenheit. Sie fragen sich nach der Vorstellung, ob sie einer Taufe oder einem Begräbnis beigewohnt haben.

In der Antwort scheiden sich die Geister. Es gibt Menschen, die sich, berauscht von allem technischen Fortschritt, willen- und urteilslos von den rasenden Vehikeln der Gegenwart und den „Fliegenden Untertassen" der Zukunft fahren, entführen lassen — und es gibt Skeptiker, Warner, Bremser (was nicht unbedingt mit Rückschrittlern oder Stockfischen identisch zu sein braucht).

Halten wir die Tatsachen fest: Das echte Cinemascope-Verfahren, das die Fachwelt heute für die nächste Phase der Entwicklung des Films für aussichtsreicher als den plastischen Film hält, kombiniert eine horizontale Ausweitung des Blickfeldes mit dem „räumlichen Ton", schlichter gesagt: Der Besucher sieht auf der nunmehr breiter gewordenen Bildfläche in allen Sinnen des Wortes „mehr" (wie ein Pferd, dem die Scheuklappen abgenommen wurden), er hört aber auch den Ton von seiner „natürlichen Position" her, also vom jeweiligen rechten, linken oder mittleren Standort des Sprechers (oder sonstigen Tonerregers). Das muß für alle, die als Tendenz oder gar Aufgabe des Films im Gegensatz zur Kunst die möglichst getreue Nachahmung der Natur erblicken, einen Fortschritt bedeuten. Tatsächlich ergeben sich auch daraus in dem amerikanischen Farbfilm „Das Gewand" (gemeint, ist das Gewand des Erlösers, das einen römischen Tribunen vom Kommando der Exekutionsabteilung in Golgatha zur Gnade des Märtyrertodes führt) vorerst höchst erregende Wirkungen Der unheimliche Aufriß des Blickfeldes ist stellenweise gleich überwältigend wie die förmlich kaskadenhaft einstürzenden Stimmen, Geräusche, Chöre und sonstigen musikalischen Fluten. (Dabei seien gerne einige Kinderkrankheiten der Wiener Vorführung übersehen: eine Sondervorführung von eigens gewählten Tonkostproben am Vormittag geriet beispielsweise viel überzeugender als die eigentliche Premiere!) Gleichgeblieben oder besser: mit dem Quadrat der technischen Zauberei wie ein Geschwür mitgewachsen ist der alte Hang des amerikanischen Films zu Brutalität und Grausamkeit: eine Folterszene zum Uebelwerden, farbig, breitwandig und stereophonig, ist, inmitten solcher Bibelstorys, nicht eben geschmackvoller als des seligen Cecille de Milles saftigste Arenaeinlage: jedem Löwen seinen Christen …

Damit ist die Problematik des unbestritten bedeutenden Ereignisses dieser Premiere schon angedeutet. Der Film von heute tritt, fasziniert wie ein Kaninchen vom Zauberblick der technischen Spielereien, hinsichtlich seiner geistigen Substanz (wohlwollend gesagt!) auf der Stelle. Es gibt nun Optimisten, Fortschrittsorthodoxe, die meinen, daß sich der Film einmal, nach Kooptierung aller nur denkbar möglichen Sinnenreize, über diese technische Fesselung erheben und dann erst zum großen Schlage: das Universalkunstwerk des modernen Menschen zu werden, ausholen werde. Hier aber mahnt das Beispiel Tonfilm zu höchster Vorsicht. Wir haben uns schon 1929 einer ganzen Reihe von Urprinzipien des Films (alle in der Richtung der Symbolik und Illusion) fahrlässig begeben und an ihrer Stelle dem neuen Hilfsmittel des Tones einen ungebührlich hohen Rang zugeteilt: nicht vorübergehend, sondern auf Dauer! Es ist zu befürchten, daß auch die künftigen technischen Dimensionen des Films vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck heranwuchern. Dies aber bedeutete letztlich das Ende des Zeitalters des Films in jenem strengen Sinne, der ihm einmal in die Wiege gelegt worden ist, und ergäbe, vermutlich verschmolzen mit der Television, einen völlig neuen Begriff eines streng naturalistisch-technischen Phänomens: dem zünftigen, zukünftigen Menschroboter zwar auf den Leib geschrieben, nicht aber zu seiner Seele sprechend. Damit aber wäre 1895 in Gestalt des Films der Religion und Weltanschauung kein eheliches Kind wie die echte Kunst, sondern nur ein Bastard geboren worden.

Der Film „Das Gewand“ war als erste Premiere einer Festwoche gelegt, mit der die Metro- Goldwyn-Mayer, aller Ehren voll und mit der Erinnerung an das goldene (Garbo-) Zeitalter des Films geschmückt, ihren 30. Geburtstag feierte.

Es klang wie eine Demonstration, als der Sprecher eines anderen festlichen Jubiläums '(25 Jahre Apollo-Lichtspieltheater in Wien) gerade für dieses nach wie vor führende Premierentheater Oesterreichs, das an dieser Stelle einmal „das Burgtheater des Films" genannt wurde, das Recht, ja die Pflicht zum Widerstand gegen die allzu stürmische und ungebärdige technische Fortentwicklung des Films reklamierte. Keine Breitwand, kein Stereoton: das „Apollo" zu

Wien wird auch im künftigen Jahr Normalfilme vorführen. Normalpublikum und Normaikritiker haben ihre Freude daran …

Der Film, der zu diesem Fest gewählt wurde: „Das Licht der Liebe", ist konservativ in doppeltem Sinn, nicht nur in Stil und Fabel, sondern auch, weil Gerhard Menzels Buch, schon vor eineinhalb Jahrzehnten einmal verfilmt wurde. Im Range halten sich beide Fassungen ungefähr die Waage. In der Inszenierung ergibt sich ein kleines Plus für den alten Film, dagegen scheint uns ' das instinktsichere, „naive" Spiel Paula Wesselys in der Rolle der Mutter, die unbedankt und aufopfernd ihre vier Sorgenbringer durchbringt, näherzuliegen als der bewußtere, „senti- mentalische" Spielstil Käthe Dorschs von ehedem. Das zur Larmoyanz neigende Thema ist auch diesmal sauber und taktvoll angepackt und gemeistert worden, dagegen erschienen uns einige Dialo»- stellen (so das dumme Gerede um die Heiligkeit der unehelichen Mutter), die offensichtlich aus anderen Zeiten stehengeblieben sind, heute durchaus entbehrlich.

Eine technische Sensation, die das achte Weltwunder des „Gewandes" fast in den Schatten drückt, kommt überraschend von deutscher Seite. Ein schlichter, gar nicht antiquiert anmutender Gahgbofer-Stoff, „Schloß Hubertus“, gibt den Hintergrund für ein neues deutsches Farbfilmverfahren. (Garutso-Plastorama in Agfacolor.) Die Leuchtkraft, Tiefe und Schärfe der Hochgebirgsbilder ist einfach überwältigend. Grundsätzlich scheint vielen Fachleuten, auch über dem großen Wasser und im Osten, das Agfacolor- system für die Zukunftsexperimente viel, viel aussichtsreicher zu sein als das Technicolor. Aber in allen diesen Dingen entscheiden ja längst nicht mehr künstlerische Zensuren und Zensoren, sondern Kapitalpositionen. Und hier sitzt Deutschland wohl noch am schwächeren Arm.

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