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Ein banges Unbehagen...

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Der Urt Wattens in Iirol, das zum Gegenstand der Untersuchung gewählte „Industriedorf im Wohlstand“, steht stellvertretend für eine ganze Reihe ähnlicher Dörfer in Österreich, Deutschland oder in der Schweiz. Mit der zunehmenden Industrialisierung der ländlichen Bezirke begann ein Umwandlungsprozeß, der, zusammen mit den veränderten Arbeitsmethoden in der Landwirtschaft und dem sprunghaften Ansteigen des Fremdenverkehrs, die ländliche Lebensform der städtischen immer näher bringt und Probleme entstehen läßt, die vor wenigen Jahrzehnten „auf dem Lande“ noch unbekannt waren. Man weiß einiges von diesen Vorgängen und den Problemen, die sie nach sich ziehen — aber man sieht sie nicht oder nur verzerrt, wenn man als Ortsbewohner mitten in der Entwicklung steht oder als Winter- oder Sommergast alte Klischeevorstellungen vom ländlichen Leben hat und auf der Suche nach Restbeständen der alten Herrlichkeit ist. Die Soziologie erfüllt unter diesen Umständen auch eine wichtige soziale Funktion. Ihre Forschungsergebnisse können die Arbeit der Kirche, der staatlichen Behörden und nicht zuletzt auch der politischen Parteien erleichtern, kostspielige Umwege ersparen helfen.

Nachdem der Autor seine Untersuchungsmethoden beschreibt und den „ersten Eindruck“ in dieser wohlhabenden, gepflegten Siedlung mit drei großen Fabriken schildert, stellt «r eine „Gefahrenhypothese“ auf: „Wattens und sein Hinterland hatten in den letzten Jahrzehnten einen außerordentlichen materiellen Aufschwung erlebt. Äußerlich scheint alles zum besten zu stehen, soziale

Spannungen scheinen nicht vorhanden zu sein. Die Bevölkerung etabliert sich aber mehr und mehr als reine .Konsumgesellschaft', verlangt dauerndes Steigen des Wohlstandes, so daß zum Beispiel in manchen Bau- oder Fürsorgebelangen auch diese sehr .reiche' Verwaltungsgemeinde überfordert wird. Das politische Interesse und die Aktivität der Bürger nehmen aber laufend ab, die geistigen Interessen sind wenig geweckt, und auch die religiösen Bindungen, die nach äußerlichen Zeichen noch als stark gedeutet werden müssen, verfallen einem Prozeß der Aushöhlung. Bürgermeister, Pfarrer, Unternehmer und Gewerkschaftsführer fragen sich daher, wie die Anteilnahme der Bevölkerung am öffentlichen Geschehen intensiviert werden könnte. Ein banges Unbehagen ... befällt die verantwortlichen Leute auch, wenn sie daran denken, was wohl geschehen würde, wenn die krisenanfällige Hauptindustrie des Ortes wieder in eine Rezession geriete. Der Beobachter muß die Frage hinzufügen, ob nicht in dieser scheinbaren Wohlstandssphäre gewisse Spannungen und soziale Probleme verborgen sind, die heute oder morgen akut werden könnten ..

Auf Grund der mündlichen und schriftlichen Befragungen und der vorhandenen Statistiken entsteht das Bild des Talortes Wattens mit zwei angrenzenden Berggemeinden und mit etwas mehr als fünftausend Einwohnern. Der Charakter der Talsiedlung wurde stark durch die florierenden Industriebetriebe des Ortes geprägt. Viele Arbeiter „pendeln“ täglich von näher oder ferner liegenden Gemeinden. In den Lebensmittelgeschäften von Wattens werden die teuersten internationalen Spezialitäten angeboten; an der besseren Ausbildung ihrer Kinder jedoch sind die meisten Eltern nicht interessiert, denn auch mit der geringsten Pflichtschulbildung erreicht man einen guten Lebensstandard. ..

Die Religionsstatistik zeigt eine Situation, wie sie in größeren europäischen Zentren heute bereits überholt ist: Die überwiegende Zahl der Katho liken gehört den unteren gesellschaft liehen Schichten an; einen Verhältnis mäßig hohen Prozentsatz an Nicht katholiken findet man unter dei Unternehmern und leitenden Funktio nären. Hierin sieht Bodzenta eine Zu rückgebliebenheit des Ortes unter Ver hältnissen, wie sie noch vor Jahr zehnten herrschten, als Max Webe noch mit Recht feststellen konnte, dal Calvinisten und Liberale die Führungs Positionen in der Gesellschaft ein nehmen...

Die Tatsache, daß im Industriedor Wattens die Zahl der ÖVP-Anhänge: überwiegt, erklärt der Autor damit daß der „Partei- und Klassenfanatis mus“ schon vor Jahrzehnten durch der Einfluß umsichtiger, sozial aufgeschlos sener Betriebsleitungen abgebaut wurde „Heute überwiegen Gemeinde-, Be^ triebs- und Gruppenegoismus. Di< Gemeinde- und Wahlpolitik wirc weniger nach weltanschaulichen als nach materiellen Gesichtspunkten be stimmt... ,Die Arbeiter mißtrauet ihren eigenen, von außen gelenkter Vertretern und lassen sich lieber vor Wirtschaftsleuten ihren Lebensstandarc sichern', äußerte sich ein Gemeinde funktionär nüchtern ... Befragungei ergaben in übereinstimmender Weisi die Meinung, daß weniger eine partei gebundene, sondern eine auf wirt schaftlichen und sozialen Fortschrit bedachte Richtung überwiege. In wel chen politischen Gruppen diese Rieh tung der Volksmeinung am besten ver treten erscheint, dorthin wandern dii Stimmen...“

„Die im Gemeinderat als .Parteilose aufscheinende Gruppe und ein Tei der unter ÖVP-Führung stehendei •Wattener Heimatliste' tritt bei Land tags- und Parlamentswahlen als Frei heitliche Partei (FPÖ) auf... Auel der große Turnverein des Ortes steh ihnen nahe. Bei Bundespräsidenten wählen wandern ihre Stimmen vorwie gend zu den Sozialisten, und selbst de ÖVP-Kader verliert in diesem speziel !en Fall dorthin einige Stimmen.“ Ii Wattens besteht demnach eine Dritte hing der politischen Meinungen: fü einen Industrieort ein auffälliges Zeichen. Den Grund findet der Autor in den modernen Formen der Industrie, im veränderten Gemeindemilieu und in einer gewissen „Tiroler Tradition“. Zwiedenken, ethischer Schwachstrom

Die Untersuchungen fördern immer tiefere Schichten zutage. Ein Bruch zwischen Religion und Lebensgewohnheiten in der Familie wird festgestellt. Ein „Zwiedenken“ (mit oder auch ohne Gewissenskonflikt) hat viele Katholiken erfaßt.

Trotz der sechs Bibliotheken im Ort liest ein Großteil der Leser „infantile“ Bücher. Der Autor stellt damit Mängel in der Schulbildung und in der Erwachsenenbildung fest.

Bodzenta schließt seine Untersuchungen mit der Feststellung, daß sich seine eingangs aufgestellte „Gefahrenhypothese“ bestätigt habe: Wattens zeigt Kennzeichen der modernen Massengesellschaft mit vielen oberflächlichen Sozialkontakten, wobei jedoch der einzelne „einsam“ bleibt. Scha-sching spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von „ethischem Schwachstrom“ ...

Anzustreben wäre die vollkommene soziale Integration der Gemeinde. In Wattens wird dies auf wirtschaftlichorganisatorischem Gebiet nahezu restlos erreicht. „Was... fehlt, ist ein Zueinanderfinden der Schichten und Gruppierungen ... Die Pfarre könnte einen Schwerpunkt, einen Kristallisationspunkt in dieser einigermaßen wurzellosen Gesellschaft bilden... die Probleme der industrielien Bevölkerung an die erste Stell&#171; der Programmliste stellen...“

Hierzu Schasching: „Die Beziehung zwischen Kirche und Arbeiterschaft wird in entscheidendem Maße von der soziologischen Situation der Arbeiter bestimmt. Darum braucht es einen realistischen Arbeiterbegriff. Dieser Begriff ist heute noch keineswegs bis in seine Einzelheiten geprägt. Man begegnet noch ab und zu zwei utopischen Auffassungen vom heutigen Arbeiter. Die eine will ihn immer noch in die Zwangsjacke der marxistischen Klassenideologie zwängen, die andere sieht ihn bereits als den harmlosen, allseits satten Bürger. Die heutige Soziologie selber ist noch auf der Suche nach dem gesellschaftlichen Standort des heutigen Arbeiters.“

Womit sich der Kreis schließt — den aber Bücher, wie das hier vorgestellte Buch von Erich Bodzenta, schon da und dort durchbrechen.

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