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Geographie des Geistes

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Der menschliche Geist i,t nicht an allen Orten der Erde gleichermaßen fruchtbar. In manchen Wohnungen kann man einfach nicht denken. Andere Zimmer inspirieren uns und sind wie Brücken des geistigen Einfalls. Wer daheim in seiner Vaterstadt einen neuen Gedanken erdacht hat, soll damit auf Reisen gehen: bald wird er sehen, wie die einmal gefaßte Idee sich unter anderem Himmel erweitert, nuanciert, wie sie anders erscheint — leider oftmals in ein Geringes oder ein Nichts verschwindet. Das geographisch bestimmte Klima, die Atmosphäre der Länder und der dort Lebenden sind von Einfluß auf unsere Ideen und Gedanken. So scheinen gewisse Ideen und Ideale der Menschheit und der Geistesgeschichte an verschiedene Städte und Länder gebunden, in denen sie wachsen können, von denen aus sie ihren Anfang nehmen können, woher sie immer wieder ihre Kraft erhalten, wohin sie immer wieder zurückschauen, wie in ein ungern verlassenes Vaterland.

Wenn wir den Namen Athen hören, schwingt eine ganz bestimmte Geistigkeit in diesem Wort, die ihm anhaftet und ihm bleibt — die sich über alle Jahrhunderte europäischer Geistesgeschichte erhält. Athen heißt: Philosophie. Athen heißt: Stadtstaat; heißt: gekonnte Demokratie. Die philosophischen Möglichkeiten sind in Athen daheim: der Moralismus des Sokrates, der Idealismus des Piaton, der Realismus des Aristoteles. Wer immer philosophiert in der Treue abendländischen Geistes, mündet in einer dieser Melodienarten der Philosophie. Aber er kommt auch immer aus einer dieser Tonarten der Erkenntnis.

— Und will jemand aus Vernunft und Begabung die Freiheit der Philosophie in die soziale Oeffentlichkeit tragen, so wird er immer in der athenischen Staatsform Meister und Vorbild finden. Soll unsere europäische Erkenntnisform nicht im luftleeren Raum schwimmen und verschwimmen, so wird die griechische Staatskunst mehr oder weniger erreicht werden müssen. Und dies so sehr, daß sogar alles, was Kunst bedeutet, sich in solche Oeffentlichkeit einbauen läßt. Philosophie, Staatskunst und Kunst überhaupt haben ihren geographischen Ort des Geistes in Athen.

Berlin hat einen anderen geistigen Duft. Berlin ist eine andere Luft und ein anderer geistiger Ort für die europäische Geistigkeit. Protest gegen allen Ueberschwang, Nüchternheit des Lebens, Organisation des Organischen — darin besteht der Beitrag Berlins zur europäischen Geschichte. Oft so weit, daß das Außen für das Innen genommen wird: die fatale, aber gekonnte Verwechslung des Gefühls mit dem Verstände. Dort ist der Bodenkür die Leistung

— selbst wenn sie gegen das Sein aufsteht. Berlin ist der Sand, auf dem Büro und Amt besser wachsen' als das Leben selbst

Gleich daneben muß Potsdam liegen. Es ist wie eine notwendige Vorstadt des Geistes zum Geiste Berlins. Potsdam heißt: Militarismus. Heißt: Fridericus Rex. Heißt: militärisches Reglement. Potsdam ist so, daß es nun in Europa so etwas wie Militär um des Militarismus willen gibt. Gut exerzierte Soldaten, beste Offiziere, Kasernendisziplin — erste Form des vermaßten Menschen. Dabei heißt Potsdam noch gar nicht Krieg oder Krieg um des Krieges willen. Sondem nur: äußere Disziplin, Gehorsam unter allen Umständen, Pflicht als Pflege der Massen zu staatlicher Funktion — sei diese dann als Polizei oder als Kriegsheer gebraucht. Der Idealismus von Potsdam lebt ebenso in der Idee des Sportes wie in der des Spieles und der religiösen Askese.

Hört man dagegen Rom — so ist damit eine andere Form des geistigen Lebens ausgedrückt. Rom ist weiter als die Leistung Berlins, ist mehr als der Drill aus Potsdam. Rom heißt: Weltgefühl. Heißt: Weltmacht. Heißt: bei aller Eigenständigkeit der nationalen Geographie doch immer auch über- und internationale Ordnung. Ordo und Jus sind die Nenner, die Rom dem europäischen Geiste mitgibt: Ordnung und Recht. So sehr, daß alles Leben als eine Rechtshandlung gelten kann, wenn es römischem Ordnungssinn entsprechend gelebt wird. Dabei ist gar nicht an das päpstlich-christliche Rom allein zu denken. Rom war und wirkte schon immer so. Es hat eine Geographie, die wie ein Zentrum des Rechts und der Rechtsordnung wirkt. Weil aber das Recht die gestaltete Oeffentlichkeit der Menschheit bedeutet, so wird dieser Geist so lange bleiben, als Menschheit sich in Rechtsordnungen bewegt und bewegen darf.

Aehnlich und doch ganz anders ist W e i m a r.

Auch von dort stammt Ordnung und Recht, stammen Welt und Organisation. Anders als in Rom, anders als in Berlin und Potsdam. Weimar heißt: Humanität. Ob es das Weimar ist, das Goethe geprägt hat und den goethischen Humanismus oder das Weimar der alten deutschen Verfassung. Was Weimar mitbringt in die Symphonie des europäischen Geistes, ist Humanität deutschen Gepräges; ist naturalistisch und zugleich romantisch ein ausgewogenes deutsches Menschenbild.

Viel weiter im europäischen Geist spielt P o r i s und seine geistige Geographie. Paris heißt: elegance — elegance im eigentlichen Sinn des Wortes: von der elegance der Mode bis zur elegance des Herzens. Paris ist die Raison du coeur, die Ueberlegenheit des Herzens, wie sie sich in der menschlichen Konvention und in der Mode aussprechen kann. Paris als die Stadt der weiten Plätze und der durchsichtigen, leichten Luft gibt klare, aber menschenklare, nicht bloß begriffsklare Formen der Ueberlegenheit, der Ueberlegtheit, des Esprits. Paris wählt aus: eligit — und darum stammt alle Kunst und alle Lebensform dort aus geistiger Wahl, aus geistigem Geschmack. Man ist von Form und elegance eingehüllt und umhegt wie von einer Ahnung, daß es einmal ein Paradies auf Erden gab.

Ein anderes religiöses Gefühl erwuchs dem europäischen Geiste durch Avila: die strenge, die konfessionell gebundene Mystik hat in dieser rauhen Gegend Spaniens ihren geographischen Ort. Zunächst wegen der heiligen Teresa; dann aber über sie hinaus alles, was diesem klassischen Ausdruck christlicher Mystik entwuchs. Nicht die mehr oder weniger seelenlose Psychologie (philosophischer oder religiöser Art) hat in Avila ihren Sitz, sondern Avila heißt: der Gott und Vater Jesu Christi im Verein mit der erlösten Christenseele. Avila heißt: Gnade um Gottes willen. Heißt: Begnadung in unmeßbaren Tiefen, davon es nur spur- und gleichnisweise Ausdrücke gibt. Avila heißt: Nüchternheit Gottes und die Qual göttlicher Beglückung. Avila ist streng; ist Ueberanspruch; Ueber-Leistung; Ueber-Askese; Avila ist: Ausgesetztsein dem stets größeren Einfall Gottes und einer Unberechenbarkeit; ist Nähe der göttlichen Majestät in der vollendeten Wüste.

Der menschliche Geist ist nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen. Er ist schon in Europa allein wie aus Paradoxen, aus Ungereimtheiten zusammengesetzt. Darum gibt es auch Wien. Und Wien heißt: „Das Leben — ein Kunststück!“ Anders als in den Paradiesen von Paris und anders als in den Wüsten Avilas; Wien ist ein orientalisches Paradies und ein oberflächliches Avila. Wien heißt: im menschlichen Geiste liegt ein Tropfen Melancholie vermischt mit einem Quäntchen Leichtsinn. Die Melancholie des Walzers und der Leichtsinn der klassischen Diplomatie machen das Leben zu einem Kunststück. Und die entsprechende Geistigkeit, die dorther weht, gab Europa (wie Buchstabe und Geist miteinander das Leben ausmachen) die Gewißheit, daß das Leben etwas Ganzes und ein Universales ist — so ernst und so heiter, so maßvoll und so gelöst wie das Spiel der Kinder.

So etwa ist eine Geographie des Geistes zu erforschen. Daß es so etwas gibt, scheint auch Gott bestätigt zu haben, indem Er eine Art Geographie Seines Geistes auf dieser Welt betreibt. In den Religionen aller Völker gibt es heilige Stätten — Orte, an denen der verehrte Gott näher an die Menschen heranzukommen scheint als an anderen. Die heiligen Berge, die heiligen Haine, die Orakelstätten wie Delphi, die Mysterienorte wie Eleusis sind religions-geschjchtliche Erscheinungen solcher Art. Auch der Gott der Offenbarung des Alten und Neuen Bundes hat solche bevorzugte Orte. Der Berg Sinai und der Berg Sion, ja ein ganzes „Heiliges Land“ kennt die christliche Bundesreligion. Und obendrein Orte der Offenbarung wie die Gnadenstätten und Wallfahrtsorte aller christlichen Länder. Warum Gott solche Orte bevorzugt, ist von unserer Seite nicht einzusehen; sondern wir stellen nur fest, d a ß Er sie bevorzugt. In solcher auserwählten Geographie er, weist sich unser Gott als ein Gott der Gnade, als der Herr jener unberechenbaren Annäherung und Bereicherung, die ein absolutes Geschenk Seinerseits ist.

Sogar in den Verheißungen Christi ist noch ein geographisches Bild unserer künftigen Herrlichkeit angegeben. Die Offenbarung spricht von einem himmlischen Jerusalem, das vom Himmel Gottes herabsteigt wie eine Braut, wie die Gattin des Lammes; in diesem neuen Jerusalem der neuen Erde unter dem neuen Himmel ist Gott selbst das Licht, und das Lamm ist der Leuchter; Gott selbst ist der Tempel dieser Stadt, die eine Stadt aller Völker und Könige sein wird; zwölfmal im Jahr ist das Land um Jerusalem fruchtbar, und die Ströme bringen alle Herrlichkeiten der neuen Erde in dieses Zentrum der neuen Schöpfung. — So ist vielleicht der eigentliche Grund der Geographie des Geistes ein religiöser, wie an Jerusalem, der Bundesstadt, sichtbar wird. Alle Städte und Stätten und Länder besonderer Geisteseigenart sind ein Symbol für die Einheit des Geistes im Heiligen Geist —, für die Krönung und Vollendung aller Philosophie in der Offenbarungserkenntnis; — die Höhe alles geistigen Lebens ist der Gott, der das Leben ist. Die Fülle alles Geistes ist Gott, der der absolute und heilige Geist und der der geographische Ort für alle Gedanken, für alle Ideen, für alle Ideale, für alles gelebte und lebendige Leben ist.

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