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Intellektuelle in West und Ost

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KUNST UND KOEXISTENZ. Beitrag zu einer modernen marxistischen Ästhetik. Von Ernst Fischer. Rowohlt-Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1966. Paperback. 238 Seiten. DM 18.80. ser fünf Essays ist Mitglied des Politbüros der KPÖ. In der Ankündigung des Buchumschlages wird er neben Bloch, Lukäcs und Hans Mayer unter die bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der marxistischen Ästhetik eingereiht. In der ersten österreichischen Nachkriegsregierung leitete Ernst Fischer als Staatssekretär das Unterrichtsministerium. Bis 1956 bestimmte er als mehr oder minder „linientreuer“' Stalinist die Kulturpolitik der österreichischen Kommunisten. Der unterdrückte Ungarnaufstand dürfte die Wende gebracht haben. Seither gehört Fischer zu der nicht eben zahlreichen Spitzengruppe der entschiedenen Kritiker und Reformer der marxistischen Literatur- und Kunsttheorie. Er repräsentiert jenen Typ, den er im zweiten Essay im Kapitel über die „unbequemen Intellektuellen“ so überzeugend charakterisiert. Einer, der sich angewöhnt hat, unabhängig und dialektisch zu denken, der zugleich versucht, auch die Gegenposition mitzudenken. Ein Ferment der geistigen Unruhe, ein Mann des Widerspruches. Darum bisweilen auch die heftige Kritik und Ablehnung aus den eigenen Reihen.

Fischer spricht dem Wettbewerb zwischen den heterogenen gesellschaftlichen Systemen (dem ohnehin schon in manchem gewandelten Kapitalismus und dem Kommunismus) mit wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Mitteln entschieden das Wort. Er nennt neben John F. Kennedy und dessen Konzept einer neuen Politik Johannes XXIII. „eine der ergreifendsten verehrungswürdigsten Gestalten dieses Jahrhunderts“. Beide starben zu früh. Aber angesichts der Gefahr totaler Selbstvernichtung und der Möglichkeit der Automation des Menschen müsse das Umdenken beginnen. Christentum und Kommunismus, vor allem Katholizismus und Kommunismus, die für Fischer als „einheitliche, geschlossene Ideologien (!)“ einander gegenüberstehen, müßten sich auf das Gemeinsame humaner Werte und Bemühungen besinnen. „Koexistenz“ genügt nicht mehr; notwendig ist die Kooperation. Er zitiert dazu den französischen Marxisten Roger Garaudy (aus Rororo aktuell Nr. 944 Garaudy/ Metz/Rahner „Der Dialog oder Ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus“): „Es ist eine unabweisbare Tatsache unseres Jahrhunderts: Die Zukunft des Menschen wird nicht gegen die Gläubigen, ja nicht einmal ohne sie erbaut werden können.“ Und ein Stück weiter, abseits der atheistischen Auffassung des Marxismus, bekennt Fischer: „Wenn ich, ein keineswegs religiöser Mensch, die Macht hätte, die Religion .abzuschaffen', würde ich es nicht tun, denn Millionen und Abermillionen Menschen würden den letzten Schimmer von Hoffnung, den letzten sittlichen Halt verlieren und der Entmenschlichung wehrlos preisgegeben sein.“

Das Beunruhigendste ist die „äußerste Manipulierbarkeit“ der Menschen, hier wie dort, die Spannungen zwischen den Machtapparaten und den intellektuellen Eliten. Denn für hier wie für dort gilt: „Was uns dienen sollte, beherrscht uns. Was uns von Mühsal befreit, stiehlt uns die Freiheit. Was der Geist ersinnt, wird durch die Macht mißbraucht.“ Als Gefährten auf dem Wege zum „Guten, Vernünftigen, Menschenwürdigen“, als Parteigänger für „Freiheit, Gerechtigkeit, Humanität“ und gegen „Rückschritt, Unterdrückung, Entmenschlichung“ in West wie in Ost begreift Fischer die Intellektuellen, besonders die Schriftsteller und Künstler. Gleich im ersten Essay bietet er aus der „Gemeinsamkeit der Problematik“ einen ausführlichen, ungemein fesselnden Vergleich zwischen dem „Endspiel“ von Samuel Beckett und der Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ von Alexander Solschenyzin. Dort Hamm und Clov, Herr und Knecht sowie Hamms alte Eltern als „Menschen-müll“ in der völlig toten Welt nach einer unsagbaren Katastrophe, hier Iwan im Sträflingslager hinter Stacheldraht. Totale Entmenschlichung hier wie dort. Am Ende schimmert ein Fünkchen Hoffnung auf die Zukunft in einer Welt, „humaner, vernünftiger als die alte... Auf dem Wege zu dieser Welt werden — vielleicht — Clov und Iwan einander irgendwo begegnen.“

Das literarische Gleichnis möchte Fischer ausweiten zur Begegnung der Intellektuellen, der Schriftsteller und Künstler aus West und Ost. Ungeheuer die Aufgabe, die ihnen lichung des Menschen durch das Kapital, durch die Welt des Habens, steht bisher kein überzeugendes Menschenbild des Kommunismus gegenüber. Der Mensch ist nicht nur hüben, sondern auch drüben deformiert.“ In vier folgenden Essays analysiert Fischer die Situation der Welt von heute, die trotz allen Gegensätzen eine Einheit bildet, in der die Wechselwirkung der antagonistischen Gesellschaftssysteme mit allen Kräften zu fördern wäre. Ausführlich sucht er darzulegen, wie ein „über Grenzen und Mauern hinweg“ reichendes Bündnis der Intellektuellen gegen die Bedrohung 'durch Technokraten und Bürokraten in aller Welt aussehen könnte. In der Dichtung wird sich ein neuer, nach Fischer freilich säkularisierter Mythos mit dem Logos, die Phantasie mit der Vernunft zu verbinden haben; „denn in der Stille beginnt die Wandlung und Wende der Menschen“, damit einmal das . Wort „menschlich“ das Hilfreiche, Brüderliche, Uneigennützige bedeute.

Ernst Fischer ist überzeugter Marxist und Kommunist. Man merkt es auf jeder Seite. Also wird mandies in dem Essayband beim nicht-marxistischen Leser auf Widerspruch stoßen. Aber gestehen wir dem Autor zu, was er selbst in dem Kapitel „Die Wahrheit und der .Klassenstandpunkt'“ fordert: „Wir müssen... die wirklichen Ideen der Andersdenkenden... kennen, uns in sie hineinversetzen, um nicht rechthaberisch von außen her, sondern .immanent' zu diskutieren.“ Halten wir uns darum an das, was uns eint, und das Ernst Fischer gegen Schluß in die Worte faßt: „Gemeinsam scheint uns Humanisten, marxistischen und christlichen, in dieser kritischen Periode, den Menschen als das zu sehen, was er zu werden vermag ... das .Menschsein' im Menschen als die große Möglichkeit, daß die Gattung Mensch über sich selbst hinauswächst.“ Der Verlag vergleicht Fischers Essay mit einem Pamphlet. Aber der ist weniger eine Streitoder gar Schmähschrift, als vielmehr ein echter Sorge entstammender Versuch einer sehr kritischen Bestandsaufnahme mit einer behutsamen Andeutung von Lösungen, die mit der Frage „Utopische Hoffnungen?“ und der Antwort „Vielleicht!“ enden. Jedenfalls lohnt es, sich mit diesem Versuch ernsthaft auseinanderzusetzen.

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