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LEO GABRIEL / IMMER IM ENGAGEMENT

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„Sechziger“ sind unter denen, die diese Wochenschrift als „Kopf der Woche“ zu porträtieren pflegt, äußerst selten. Ein Mann, der sechzig ist, ist keine junge Persönlichkeit mehr, auf die man die Blicke lenken müßte. Er ist aber noch ein gutes Stück von jenem Patriarchenalter entfernt, das Ernte und würdigende Gesamtrückschau fordert. Leo Gabriel, der Wiener Ordinarius für Philosophie stellt eine Ausnahme dar. Er war ein „Engagierter“, als er in die Arena der geistigen Auseinandersetzung trat und sich einer von radikalen Fragen gekennzeichneten Zeit stellte, er ist heute ein „Engagierter“, dessen Tätigkeitsfeld mit der Umhegung der Alma Mater Rudolfina nicht einzugrenzen ist, und er wird wohl ein „Engagierter“ bleiben, auch wenn er einmal achtzig sein wird.

Für ihn ist Philosophie nur denkbar, nur berechtigt als Lebensberuf,wenn sie sich der Zeit stellt: konkret und geradeweg auf die Mitte der Auseinandersetzung zusteuernd. Nietzsche gab einem seiner Bücher den Untertitel „Wie man mit dem Hammer philosophiert“. Hammerschwinger ist dieser österreichische Philosoph, den ein sehr boshafter Rezensent einmal unter Anspielung auf seinen Namen „weder Löwe noch Erzengel“ nannte, keiner. Aber er weiß dennoch nicht nur den Federhalter zu handhaben: die Schreibmaschine des Publizisten, der bleibt Bleistift des rasch notierenden Debattenredners, das Diktaphon des konzentriert formulierenden politischen Analytikers; das alles sind Handwerksgeräte der Auseinandersetzung, die er keinesfalls als minderwertig ansieht. Mag ihn der eine oder andere von der Zunft deswegen verächtlich einen „Journalisten“ heißen, einen „Popularisierer“ gar. Diesen fast immer freundlich und konziliant lächelnden Herrn aus Wien, mit der gepflegten Künstlerfrisur und den weltmännischen Gesten stören solche Vorwürfe — laut oder leise geäußert — ebenso wenig wie die brechend vollen Hörsäle bei seinen Semester für Semester gehaltenen Einführungsvorlesungen in die Philosophie, wie die persönliche Beliebtheit bei Hörerinnen und Hörem. Zu ihm kommen ja nicht nur jene wenigen, die „reine Philosophie“ studieren und mit ihm die Dissertation besprechen, der er zur ordnungsgemäßen Geburt hilft, auch wenn der Kandidat einen philosophisch dem seinen entgegengesetzten Standpunkt vertritt. Zu ihm kämmen ja auch alle jene, die das „Philosophikum“ als Pflichtprüfung im Zusammenhang mit einer anderen Einzelwissenschaft ablegen müssen. Es gibt kaum eine Disziplin, die Leo Gabriel nicht als Ausgangspunkt für ein Prüfungs'gespräch anerkennt. Ihm kommt es nic}tt darauf au, den Kandidaten nach zusammengebüffelten Wissensdaten zu fragen. Er schlägt die Brücke vom Einzelwissen zum „Wissen vom Wissen“, ob der vor ihm Sitzende Zoologe oder Kunsthistoriker, Mathematiker oder Altphilologe werden will.

Dem Professor kommt sein eigener, zweigleisig verlaufender Ausbildungsweg zugute. Von Anfang an arbeitete sich der gläubige und seinen Glauben kompromißlos bekennende Katholik neben dem Studium der „philosophia peren-nis“ in das zeitgenössische außer-katholische Denken ein, nicht um es mit apologetischem Übereifer Punkt jür Punkt zu widerlegen, sondern um sich selbst — im gut somatischen Sinn — von ihm „befragen“ zu lassen. So hielt er es mit dem Positivismus der Wiener Schule, der zu seiner Studien- und frühen Dozentenzeit das philosophische Parkett beherrschte, so hielt er es mit dem Existentialismus der Zeit nach dein zweiten Weltkrieg, den er als erster katholischer Philosoph unseres Landes nicht nur studierte, sondern in seinem innersten, berechtigten Ansatz zu würdigen und einzuverwandeln suchte. So hielt er es auch bei seiner unbefangenen Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus. „Integration“ — nicht mörderisches Entweder-Oder, aber auch nicht verwaschene Gleichgültigkeit, das ist das Motto dieser geistigen Existenz. Und die philosophische Krönung dieses Lebenswerks soll jene „Integrale Logik“ werden, die den Schlüssel zur denkerischen Bewältigung dieser das Integral fordernden Zeit liefern soll.

Hier, im sprödesten und exklusivsten Bereich der Philosophie, dem der reinen Denklehre, ist die eine Hälfte Gabriels zu Hause. Die andere gehört, getreu dem Hölderlin-Wort, dem Lebendigsten: der Politik. Auch hier stellt er unter den meisten seiner Kollegen von Innung und Fakultät eine große, zuweilen säuerlich belächelte Ausnahme dar. Er glaubt mit dem Elan eines Jünglings und mit der Unbeirrbarkeit eines Weisen an die Integration von Geist und Macht, an das Zueinander von Gesellschaftsdenken und Gesellschafts-verwalten. Seine Entwürfe für eine Programmatik christlicher Demokratie — im Druck wie im Manuskript vorliegend — sind nicht unumstritten. Er weiß das selbst am besten. Was er braucht und sucht ist der Partner, ist die Partnerschaft aus dem Reich der Praxis. Eine Zeit schien es, als ob die ÖVP an einem solchen Impuls ernstes Interesse hätte. Ausschüsse wurden gegründet, Denkschriften bestellt, fetzt ist es wieder recht still geworden. Leo Gabriel hält sich weiter in Bereitschaft. Schließlich kennt er seine Philosophiegeschichte zu gut, um nicht zu wissen, was den Weisen in der Politik erwartet. Wenn es gut geht, kann er Mentor eines Alexander sein, wenn es schlecht geht, landet er wie Plato in den Steinbrüchen des Tyrannen von Syrakus. Beide Lose hält das Schicksal für diesen lebensfreudigen ud unerschütterlich optimistischen Herrn wohl zunächst nicht bereit.

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