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Nehmen, Behaupten

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; EUROPA UND DER KOLONIALISMUS Ringvorlesung, gehalten an der Universität Zürich im Winter 1961, veröffentlicht ir ' der Erasmus-Bibliothek. Artemis-Verlag Zürich, 1962. 290 Seiten. Preis 16.80 sfr

Elf Vorlesungen geben einen Überblicl

I über den Kolonialismus vom Altertun

, bis in die Jetztzeit, über die Rolle dei

- Mission, über den Weg der Kolonien zui

- Unabhängigkeit, über den modernen Im-' perialismus, die wirtschaftsgeographischei ' Aspekte der Tropen, die sanitären unc

demographischen Fragen, schließlich übei ' die Kulturdurchdringung auf dem Gebiei ' der bildenden Künste und der Musik. Ii ; Summe gewinnt der Leser einen brauch 1 baren Begriff vom Kolonialismus, der ii . Wirklichkeit die Weltgeschichte ist, gese-' hen vom Faktor des Nehmens und Be 1 hauptens, ob in der kleinen, Ursprung 1 liehen Schweiz oder in der Neuzeit durcl [ die Europäer.

: „Die Kolonialgeschichte ist nichts weniger als die Europäisierung der Erde durcl i das Werk der Kolonialmächte... Da! Durchdringen der Erde unter der Führunj Europas stellt den letzten und abenteuer-' lichsten Akt der Symbiose der Kultur ' dar.“ Hat es England mit seiner kolonisatorischen Begabung verstanden, bis heuti 1 jähe Brüche.in seinem Weltreich zu ver-1 meiden, so hat Europa als Ganzes schoi durch den ersten Weltkrieg als Vormacht am Erdball abzudanken begonnen, was je doch nicht das Ende des Kolonialismus alten Stils, sondern zugleich das Beginnet eines neuen, „totalitären Neokolonialismus' bedeutet (S. 163). Wir halten also ai einem Wendepunkt, der das entmachtet Europa vor neue Aufgaben stellt. Alle ei Vorlesungen haben den Vorzug, sich nicht wie sonst üblich in Utopien, wie Menschheit eine Familie, Weltregierung, Integra : tion aller Kontinente, ewigen Frieden un< dergleichen mehr, zu verlieren, sie zeiget im Gegenteil die Gefahren aller Entwicklungen des Rechtes, der Wirtschaft, dei Uberbevölkerung und Ernährung in nüchterner Prüfung, sie vereinigen sich in den Wunsch, „koordinierte Zusammenarbeit ar Stelle machtpolitischer Rivalität zu setzen“

Die Europäisierung des Erdballs wai nicht durchweg eine rühmliche, und Männern wie Karl V. und Las Casas gelang c; nur nach und nach, den Erobererrauscl durch moralische Besinnung zu zügeln. Bit in unsere Tage gibt es viel Buße in leisten, und die „Demagogie des Antikolonia-lismus“ ist nicht umsonst in die Halm geschossen. Es bleibt aber trotzdem unbegreiflich, wie hier die nötige Aufklärung im Zeitalter der höchstentwickelten Propaganda- und Reklameverfahren völlig versagt hat. Die Züricher Ringvorlesung ist endlich ein Versuch, das Versäumte nachzuholen, und dieser Versuch muß als gelungen bezeichnet werden, da er in durchaus wissenschaftlicher Art (S. 159 ff.) „die echte Umkehr freimacht zum Rückblick und zu einer gerechteren Würdigung des Vergangenen“. Jetzt ist ein tauglicher Anfang gemacht, und die aufgestellte Aktivbilanz kolonisatorischer Leistungen kann ein Bewußtsein hervorrufen, das alle sachlichen Bemühungen, nicht unterzugehen, geistig wesentlich stärken kann. Was zu tun bleibt für den derzeitigen abendländischen Rest Europas und die übrige freie Welt, das muß in mehreren Bereichen beachtet werden: die schwachen Teile der Welt materiell heben, sie geistig lenken nach christlichen Grundsätzen, keinen Traumbildern eines paradiesischen Endzustandes erliegen, alle Entwicklungen auf politischem, weltanschaulichem, demographischem und wirtschaftlichem Gebiet genauest verfolgen und jederzeit gegen alle Überraschungen gerüstet sein.

Das sind etwa die Lehren, wie sie aus der Ringvorlesung gezogen werden können, wobei jedoch noch auf einen wichtigen Unterschied zwischen einst und jetzt hingewiesen werden muß. Der kritische Wandel in unseren Zeiten liegt hauptsächlich darin, daß im kolonialen Zeitalter die weißen Völker mit einer Handvoll schwergerüsteter Krieger ausgedehnte und mächtige Staaten erobern und Bevölkerungen dezimieren konnten, daß England Vorderindien mit seinen Hunderten Millionen Einwohnern durch Generationen mit 40 Bataillonen beherrschen konnte, daß ganze Kontinente ohne moderne Waffen den Gerüsteten ausgeliefert waren — daß hingegen in absehbarer Zeit alle Staaten und Völker gleich bewaffnet sein werden.

Eine andere, nicht zu übersehende Änderung im Nehmen und Behaupten zeigt die Kolonialtaktik. Das Nehmen vollzieht sich jetzt entweder durch Subversion von innen heraus, gemildert allenfalls durch Halbierung der betroffenen Gebiete, oder aber den Schwachen gegenüber mit offener Gewalt (Goa, West-Neuguinea), unter Stillschweigen oder gar Beihilfe der zu gegenteiliger Haltung berufenen UNO. Derart rückt das Behaupten gebieterisch in den Vordergrund. Allen diesen Problemen wird man mit besserem Verständnis begegnen, wenn man die Züricher Ringvorlesung studiert.

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