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Tradhion einer Rebellion

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Man wird einwenden, daß die Erinnerung an die dem Kapitalismus eigene Unstabilität, an die zuckende Verengung und Ausweitung des Wirtschaftsvolumens eigentlich recht verblaßt sein müßte. Liegt die letzte Katastrophe dieser Art, die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, nicht schon zwei Dezennien hinter uns? Allein gerade dieser Einbruch in die Sicherheit und Beständigkeit unseres Daseins hat tiefe Linien in das Unterbewußtsein der Menschheit eingetragen. Es gibt einen Punkt, da bei Personen völlig verschiedener Art und Herkunft rationelle. Argumente nicht mehr eingreifen, man stößt auf eine hart gewordene Leidverkrustung. Walliser Bergleute, französische Dockarbeiter, die Kumpel der Ruhr, die Stahlarbeiter von Donawitz, die älteren Gewerkschaftsfunktionäre der italienischen Schwerindustrie, sie alle können unter bestimmten Voraussetzungen Handlungen setzen, die ohne das tiefe Trauma der dreißiger Jahre einfach unverständlich wären.

Aber wurde dieses Trauma nicht durch ein noch mächtigeres überlagert? Schiebt sich über die Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise nicht die grelle Vision von Diktatur, Krieg, Bombennächte, Hun-

ger und Gefangenschaft? Gewiß, nur mit einem recht wesentlichen Unterschied. Vor und während des Krieges war ein ungeheurer Apparat aufgeboten worden, die Dinge so oder so zu erklären, zu begründen, zu rationalisieren, darzustellen. Wir müssen zu Grundsätzlicherem vordringen, ehe wir für uns die Frage, ob das Trauma der dreißiger Jahre wegen seines ungelösten Restgehalts so lang nachwirkt, beantworten können. Wir müssen uns darüber klarwerden, daß die Tradition des Westens die Tradition einer Rebellion ist. Die Rebellion gegen die uralten Mächte des Kollektiven, gegen die lastende Omnipotenz von Staat und Schicksal, über dieser Rebellion drohen immer von neuem die Wel len des Archaischen zusammenzuáchla- gen. Von außen droht die Gefahr des straffer organisierten Kollektivstaates, heute wie seit über tausend Jahren, nur die Namen: Perser, Avaren, Hunnen, Türken wechseln einander ab. Von innen drohen die Ermüdung, das Unvermögen, die Einsamkeit zu tragen, die dem Westen innewohnt, die plötzliche Neigung, sich fallen zu lassen. „Oh, daß wir unsere Urahnen wären, ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“, sagt Gottfried Benn.

Diese Rebellion kann sich nur erfolgreich behaupten, wenn sie ohne inneren Widerspruch ist. Der Krisenzyklus der kapitalistischen Wirtschaft, das sich alle zehn Jahre wiederholende Spiel von Boom und Depression, die Notwendigkeit, sich einem anonymen und unverständlichen Wirtschaftsgesetz blind zu überantworten, all das stellte einen selchen Widerspruch dar, und es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß die beiden großen Erhebungen gegen diedas blinde Walten, der Bolschewismus und der Faschismus, ihre ungeheuren Wucherungen um Kristallsplitter des westlichen Erbes bildeten. Selbst die so leichthin verlachten Planziffem stellen einen Versuch dar, übersichtlich und aufs äußerste vereinfacht, einen Weg aufzuzeigen, wo vordem Weglosigkeit geherrscht hatte.

Aber in Wirklichkeit muß man sich keinesfalls zwischen diesen beiden Extremen entscheiden. Ein genaues Studium der Maßnahmen, die Präsident Truman anläßlich des kurzen Rückschlages der US-Volkswirtschaft traf, zeigt die ganze Vielfalt bereits bestehender Regulierungsmöglichkeiten einer an sich preisgesteuerten Großraumwirtschaft. Nein, es ist keinesfalls notwendig, überall regulierend einzugreifen, aber es ist notwendig, dem wirtschaftlichen Gesamtablauf das Bild menschlicher Gestaltungskraft zu verleihen. Den breiten Massen muß klargemacht werden, daß ein freies Preisspiel nicht wie ein grausames Götzenbild über den Massen zu thronen hat, sondern daß es innerhalb des Wirtschaftsablaufs bestimmte und begrenzte Aufgaben erfül len soll. Während nämlich die Planer medst unter dem gesunden Zwang stehen, ihre Maßnahmen zu motivieren, leben die Anhänger des laissez-faire unter der irrigen Voraussetzung, daß sie ich behaglich zurücklehnen und das Spiel ihrer Automatismen ohne Kommentar beobachten können. Der Kontakt mit dem Publikum, die klare, eindringliche Herausstellung der Ziele, das ganze Gebiet der „Public relations“ wird mit heimlichem Mißtrauen betrachtet. Der Unlustgehalt der Atmosphäre des Westens ist nicht zuletzt auf das tragische Versagen der Finanzminister auf dem Gebiet der „Public relations“ zurückzuführen.

Wo aber ist die klare Stimme, die mit wirtschaftlicher Vernunft die Grenzen der notwendigen Einschränkung absteckt, den Sinn der Opfer erläutert sowie die Zeitdauer der neuen Ausferity abschätzt? Es ist kein Zufall, daß diese Stimme nicht ertönt. Einen Augenblick sah es so aus, als ob Sir Stafford Cripps, diese überragende Erscheinung der Labour- partei, in diese Rolle hineinwachsen könnte. Aber dann verwickelte er sich selbst in Widersprüche, zerstörte schließlich den eigenen Kredit, indem er die

Devalvation des Pfunds heroisch mit einer Lüge abschirmte. Das Opfer wurde notwendig, weil auch Sir Stafford aus einem zu engen Raum zu planen versuchte. Hier haben wir ein Dilemma, das im selben Ausmaß für die Anhänger des laissez-faire gilt. Der Unterschied ist nur der, daß die einen lieber in einem Land planen, als in ganz Europa eine Marktwirtschaft zu tolerieren, während die anderen, die Anhänger der Marktwirtschaft also, keine europäische Wirtschaft aufrichten können, ohne sich vorher in förmliche Planungsorgien zu stürzen, wovor sie zurückschrecken. Nur Monet, der Schöpfer des Schuman-Plans, und Professor E h r h a r d in Bonn, der diesen Plan trotz der enormen Risken akzeptierte, damit nur einmal ein Schritt in die Weite getan werde, machen hier eine rühmliche Ausnahme. Als Beispiel für die Problematik der Lage mag der inzwischen sang- und klanglos begrabene Zollunions- plan zwischen Italien und Frankreich angeführt werden. Die beiden Partner kamen mit bestem Willen zur Verhandlung. Als es aber den Italienern klar wurde, welche Konsequenz eine solche Fusion für die norditalienische Schwer industrie sowie für die Wein- und Gemüsebauern haben könnte, zogen sie s:ch augenblicklich wieder hinter die Quotenbarrieren, die man vom Faschismus übernommen, zurück. Wie denn auch anders! Es gab damals in Italien beinahe zwei Millionen Arbeitslose. Zur gleichen Zeit aber herrschte in europäischen und überseeischen Staaten ein akuter Mangel an Arbeitskräften, und die Unterbemannung der englischen Kohlengruben beschwor eine englisch-europäische Wirtschaftskrise herauf. Die Probleme sind also lösbar, aber sie können nicht mehr in zweiseitigen Verhandlungen, sondern nur mehr im atlantischen Gesamtrahm.en gelöst werden. Hier aber darf man sich nicht darauf verlassen, daß der Zusammenschluß über die Wirtschaft erfolgen wird. Ganz im Gegenteil: die Wirtschaftsinteressen werden sich zunächst immer gegen Fusionspläne stellen. Nur der gewaltige Druck primär politisch orientierter Massen kann mit dem versteinerten europäischen Partikularismus fertig werden und damit den Rahmen für einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung schaffen.

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