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Von einem unbeugsamen Demokraten

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BEI GELEGENHEIT. Von Theodor Heust. „Außeramtliehe, gelöste, nebenstündliche Produkte.“ 202 Seiten. - DEUTSCHE GESTALTEN. Von Theodor Hents. Studien zum 19. Jahrhundert. 488 Seiten. Beide Bände: Rainer-Wunderlich-Verlag, Hermann Leint, Tübingen, 1962. Preise 12.80 und 19.50 DM.

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BEI GELEGENHEIT. Von Theodor Heust. „Außeramtliehe, gelöste, nebenstündliche Produkte.“ 202 Seiten. - DEUTSCHE GESTALTEN. Von Theodor Hents. Studien zum 19. Jahrhundert. 488 Seiten. Beide Bände: Rainer-Wunderlich-Verlag, Hermann Leint, Tübingen, 1962. Preise 12.80 und 19.50 DM.

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Seit Theodor Heuss der Bürde eines hohen Amtes als Bundespräsident ledig ist, vereint er die Würde seines geistesmächtigen Greisenalters nicht etwa mit der sprichwörtlichen Muße, sondern mit einer chriftstellerischen Spättätigkeit, die ihresgleichen sucht. Drei Bände seiner gesammelten Essays sind erschienen und bisher zusammen in mehr als hunderttausend Exemplaren verkauft worden, was gleichermaßen dem Autor, dem Wirtschaftswunderland und dem Wunderlich-Verlag Ehre macht. Unter Heuss' Leitung ist die fünfbändige Reihe der „Großen Deutschen“ erschienen, eine Sammlung von Biographien ungewöhnlichen Ranges. Gewissermaßen als Nachhall zu diesen beiden Veröffentlichungen sind zwei Bücher zu bewerten, die neuerlich den Glanz, die Weisheit, den feinen Geschmack, die Sprachgewalt, die Vielseitigkeit des Uomo universale bezeigen, deT dieser Humanist aus schwäbischem Stamm sein reiches Leben lang gewesen ist. Man bestaunt immer wieder die Vielfalt der Kenntnisse, die Vielseitigkeit dieses außerordentlichen Mannes, der mit spielender Anmut — wie selten ist im deutschen Raum derlei Gabe — seine Vielseitigkeit an den mannigfachsten Themen bewährt. Das ist kein gewandter Plauderer, der, von ganz oben herab, angelesene Wissensbrocken hemach als Offenbarungen über Babel und Bibel, Fabel und Fibel, Gabel und Giebel, Kabel und Kübel, Säbel und Sybel hinausschmettert, noch ein Literat, ein Journalist, der „verschwenderisch mit zwanzig erhabenen Worten das sagt, was man mit einer Silbe sagen kann“, sondern ein künstlerisch begnadeter Polyhistor, dem Witz und beschwingte Heiterkeit die Zunge, die Feder, die ernsthaftesten Probleme zu lösen helfen.

Zunächst: „Bei Gelegenheit.“ Mit Fug Ist diesen unserer ruhelosen Zeit vergnüglich an den Rand geschriebenen Bemerkungen ein „Lob des Dilettanten“ voTaus-ge*chickt, welchem Bildnis des Liebhabers det Schönen und des Wissenswerten nicht schadet, daß Heuss das Wort selbst in mittelbarer Etymologie vom lateinischen „delectare“, tatt unmittelbar vom italienischen „dilettare“ ableitet. Ein Dilettant im Sinn Heuss' unterscheidet sich vom Fachmann, der dieser Dilettant trotzdem' sein kann, dadurch, daß er den Gegenstand seiner Kenntnisse und Erkenntnisse nicht nur aus Pflicht, aus Beruf und, meinetwegen, aus Berufung betrachtet, sondern kraft einer Bindung durch einen Eros eigener Art. Oder, wenn man will (das läßt sich französisch eher ausdrücken: c'est la musique intcrieure qui fait le feuilleton): Die innere Musik erhebt ein Feuilleton über die Plattheit, vermöge deren das von ihm abgeleitete Eigenschaftswort üblen Beigeschmack erhalten hat.

Was wird da nicht alles „bei Gelegenheit“ geschildert, durchleuchtet und hell aufstrahlen gemacht: der Arbeitsprozeß beim Glasblasen und beim Webstuhl; Sinn und Wesenheit der drei christlichen Hauptfeste; Artung der beiden deutschen Stämme, die dem Verfasser blutmäßig und als Bewohner des Daseinsraums seiner Jugend wie einer Spätjahre am nächsten stehen, der Schwaben und der Franken, ein Exkurs über schwäbischen Trunk und schwäbische Speise; die Vivisektion einer Volksversammlung und eine „Theologie der Stenographie“.Bald spricht zu uns der niemals den sozialen Zusammenhang vergessende Kunstverständige, bald der psychologisch eindringende Erforscher der Menschen und ihrer Gemeinschaften, bald der zutiefst christlich geprägte Denker, bald der vielerfahrene Politiker, dem aber die langjährige Zugehörigkeit zu diesem — in mehrfachem Wortsinn — bedrückenden Beruf nicht die angeborene Lustigkeit erstickt hat. Man mag hier und da mit einigen Ansichten Heuss' nicht übereinstimmen, so in seinem Plädoyer für Küche und Keller seiner engeren Heimat, doch das mindert weder die Freude an seiner Schreibkunst noch die Bewunderung für seine überall durchschimmernde Hochbildung, für seinen klaren, unbefangenen Geist.

Dann bezaubert uns die dichterische Schönheit einer Erinnerung an bukolisches Landleben, samt anderen Reminiszenzen an die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende. In diese Idyllen platzt, Ärgeres vorausnehmend, eine Bombe hinein. „An der Litfaßsäule“, ein knappes Prosastück aus dem Unheilsjahr 1919. Ich wüßte für diese Vision des Grauens keinen größeren Ruhmespreis als diesen: sie ist ebenbürtig den apokalyptischen Szenen aus Karl Kraus' „Letzten Tagen der Menschheit“. Wie sehr sie dem gewaltigen Werk des Wiener Satirikers innerlich verwandt ist, das erschließt sich dem aufmerksamen Leser, wenn er auf — Heuss sicher unbewußte *— Parallelen im meisterhaften sprachlichen Ausdruck stößt, so auf den Vergleich mit dem Weltuntergang und auf die düstere Hanswurstrolle des S'-hmocks als apokalyptischer Reiter, der, in Gemeinschaft mit den Ankündigungen der Litfaßsäule, zugleich Vorreiter und Vorbereiter nun eben de „Untergangs der Welt durch schwarze Magie“ der Druckerkunst ist. Der Druckerkunst, die dann ihrerseits den Unterdrückern die Bahn ebnet: in eine schlimmere Welt, die auf den Trümmern der vernichteten älteren west und verwest.

Ward also mit Leid beendet des fröhlichen Humanisten herzerfrischendes Buch, wie „immer Lust nur Leid zum allerletzten gibt“? Ach, wir sind ja nochmal und hernach ein zweites Mal davongekommen, und der christliche Humanismus eines Theodor Heuss trägt dazu bei, daß wir auch weiterhin hoffen und harren.

Sein zweites Buch, von dem hier zu berichten ist, darf als Stütze für derlei Zuversicht angesprochen werden. Aus einer noch nahen Vergangenheit können wir den Glauben an jene unversiegbaren Kräfte schöpfen, der sonst allzusehr als selbsttäuschender Optimismus anmutete. Heuss will mit den kurzen Lebensbildern eines Halbhunderts — genauer: 53 — deutscher Geisteshelden nicht nur dartun, was „deutsch und echt“ ist und also von den Meistern singen, sondern auch dazu jenes 19. Jahrhundert in dessen schlechtem Ruf erschüttern, das von Leon Daudet den ehrenden Beinamen „stupide“ verliehen bekam und das durch Rudolf Kassner als „Jahrhundert dazwischen“ auf einen Stehplatz im Großen Welttheater verwiesen wurde. Aus an sich begreiflicher Vorliebe bezieht der Autor den ehrwürdigen Justus Moser mit ein, diesen chronologisch wie wesenhaft völlig dem 18. Jahrhundert angehörenden bedeutenden Historiker und Verteidiger des guten alten Rechts. Doch sind nicht die typischesten Wegbereiter der fürs 19. Jahrhundert maßgebenden Ideen geistig dem Siede des lumieres. dem Zeitalter der Aufklärung entsprossen?

Die Auswahl der Dargestellten war zweifellos durch Zeit und Ort des ersten Abdruck ihrer von Heuss dargebotenen Würdigungen mitbestimmt. Diese funkelnden, mit wenigen Strichen tief eindringenden Porträts sind zwischen 1938 und 1943 in der „Frankfurter Zeitung“ erschienen, mitten im Weltkrieg oder während der ihm vorangehenden Krisenjahre, unter der Herrschaft des Dritten Reiches, das der ihrer Arisierung ungeachtet auch weiterhin sehr übel angeschriebenen „Frankfurter Zeitung“ das Lebenslicht ausblies. Dieser Umstand mag erklären, warum ein Lassalle, ein Ballin, ein Rathenau und schon gar ein Karl Marx, allerdings auch ein Engels fehlen, die angesichts der Weitherzigkeit, mit der Heuss seine sowohl Politiker als auch Dichter und Künstler von vornherein ausschließende Aufgabe löst, dennoch hier zu erwarten gewesen wären. Der Blickwinkel des zwar von Scheuklappen freien, doch — wie jedermann, auch der Genialste — durch Herkunft, Milieu und Lebensweg entscheidend Mitgeprägten ist wohl Ursache dafür, daß zwar evangelische Konservative von Format mit einbezogen wurden, nicht abeT einige der deutschen Leitgestalten aus katholischer Aura. Wir vermissen Bischof Ketteier, Kolping und Onno Klopp. Anderseits sind wir einigermaßen erstaunt, dem in Österreich zu tragischer Größe emporgestiegenen Ungarn Semmelweis und dem Mährer Gregor Mendel zu begegnen, die beide sehr darüber verwundert wären, im deutschen Pantheon Platz zu finden. Würde man freilich Deutsch als Sprachgemeinschaft auffassen, dann hätten Österreich und die Schweiz bitter zu klagen, daß sie nur, das eine zwei, die andere gar keinen Vertreter in Heuss' Ehrengalerie entsenden durften. Doch das seien nicht etwa Vorwürfe gegen den illustren Verfasser. Er hat Einwänden dieser Art — mit Ausnahme derer wider eine unnötige Mehrleistung — von vornherein die Spitze abgebrochen; dadurch, daß er das Entstehen seiner Bildnisreihe erzählt und die Art der Auswahl, den grundsätzlichen Verzicht auf jede Vollständigkeit, verständlich, ja sogar selbstverständlich macht.

Und so haben wir für diese neue prächtige Gabe seiner einfühlsamen, untadeligen Wortkunst, seines klugen Urteils, seine herzlichen Fühlens und seines scharfen Überdenkens erfreut zu danken. Angesichts der sichtenden Freiheit seiner einst nur durch die damaligen Gegebenheiten eingeschränkten, Auswahl, haben wir uns nur zu fragen, ob die jeweils von Heuss aufs Piedestal Gehobenen diese Ehre verdienen. Das 6ei aufrichtig und ausnahmslos bejaht. Zwar überraschen, neben den allbekannten, glorienumhegten großen Männern einige andere, deren Namen geringeren Nachhall weckt. Doch sie haben jeder eine währende Leistung vollbracht; sie erheischen Aufmerksamkeit und anerkennende Beachtung.

Im übrigen aber: Welch reicher Himmel! Stern an Stern, deren Blinken der Allgemeinheit vertraut ist, ob auch zur Zeit, da eben diese Sterne noch auf Erden wandelten, die Gemeinheit ihnen oft die Leuchtkraft durch schwarze Intrigen und Schmutzwolken versperrt hatte. Da erblicken wir also, der schon Erwähnten ungerechnet: die Denker Wilhelm von Humboldt, Hegel, die forschenden Erfinder, Entdecker Fraunhofer, Liebig, Robert Mayer, Bunsen, Abbe, Röntgen, Behring, den Flugpionier Lilienthal, die Historiker Niebuhr, Ranke, Mommsen, Delbrück, die Volkswirtschafter Schmoller, Lujo Brentano und Max Weber, den Pädagogen Fröbel, den großen Geographen und Reisenden Richthofen und den Afrikaforscher Nachtigal, den Kunsthistoriker Wilhelm von Bode, den über sein theologisches Sondergebiet weit hinauslangenden Harnack und, als einzigen Vertreter der Militärs, Clausewitz. Ach, Theodor Heuss hat für die schimmernde Wehr nicht viel übrig, es sei denn, hinter ihr berge sich gebietendes Ingenium. Doch wähne man nicht, in diesem Buch eines unbeugsamen Demokraten wehe utopisch der Wind eines wirklichkeitsfremden Pazifismus. Heuss steht mit beiden Füßen auf dem Boden der Welt, wie sie ist: wild, bös, arg, grausam und doch so schön, so innvoll. Darauf aber kommt es an, was man aus ihr macht. Und dabei 6ollen die gestaltenden „Deutschen Gestalten“ ein Vorbild ein.

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