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Der Würdigste den Würdigen

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Theodor Heuss: Würdigungen. Rainer-Wunderlich-Verlag Hermann Leins, Tübingen. 442 Seiten Preis 16.80 DM

Professoren als Staatsoberhäupter können das platonische Ideal der regierenden Philosophen ebenso ad absurdum führen wie sie es aufs schönste zu bewähren vermögen. Der Staatsrechtslehrer Wilson in den USA, der Chemiker MoScicki in Polen haben als Fachgelehrte einen besseren Ruf hinterlassen denn als Präsidenten. Der Volkswirtschafter Hainisch — der nie eine Lehrkanzel bestiegen hat, doch seinem ganzen Wesen nach professoral wirkte — und der Finanzwissenschafter Einaudi erfreuten sich für ihr Wirken in Oesterreich und in Italien allgemeiner Anerkennung. Doch Thomas Garrigue Masaryk und Theodor Heuss blieb es vorbehalten, dem obersten Amt ihrer Länder durch ihr universelles Wissen, durch ihre überragenden darstellerischen Fähigkeiten als Redner und als Schreibende, durch die schlichte Würde ihrer Erscheinung und durch die Lauterkeit ihres Charakters besonderen Glanz zu verleihin. Die Parallele zwischen dem Begründer der tschechoslowakischen Republik und dem ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland ist vielfältig. Gemeinsam ist beiden der christliche Humanismus, das Europäertum, das soziale Empfinden, die leidenschaftliche Liebe zur Wahrheit. Masaryk erscheint freilich durch angelsächsische Einflüsse gepräjt, hei Heuss spüren wir mehr den Nachhall der französischen Aufklärung. Im übrigen verkörpern beide aufs beste ihr eigenes Volk, dem sie so oft, auch gegen den Strom schwimmend, peinliche Mahnungen verkündet haben. Masaryk ist dabei, dem trügerischen Anschein eines in Apotheose mündenden Lebensabends zum Trotz, tragisch gescheitert. Wir wünschen Theodor Heuss und seiner Nation, daß seine Botschaften über die Zeit seines Waltens hinaus gehört und befolgt werden mögen. Sie entzünden ihr strahlendes Licht am gehältigen Anlaß; sie betrachten Menschen, Ereignisse, Ideen von hoher Warte aus, die sich über Zeit und Raum erhebt, ohne nun — und darin liegt viel vom Reiz und von der Eindringlichkeit dieser Reden, Aufsätze und Briefe beschlossen — den Zusammenhang mit Epoche und Umwelt einzubüßen. Den klugen, edlen Gedanken entspricht die Form ihrer Aussage. Es wird in unseren Tagen keine schönere deutsche Prosa geschenkt als die der „Würdigungen“, und ihr ebenbürtig kenne ich gar wenig; etwa die Werke Carl Burckhardts, Rudolf Kassners, einiges von Bergen-gruen, von Sigismund v. Radecki und der Le Fort. Damit ist im literarischen Bezirk der Standort Theodor Heuss abgegrenzt.

Wenn man ein geisterfülltes Altpreußentum tiefgefühlter sittlicher Verantwortung und christlichhumanistischer Gesinnung im Gegensatz zur „abtrünnigen Bildung“ ihre Aufgabe verratender „Clercs“ erschaute, so ist hier, anders als in der düster-ernsten nördlichen Landschaft, die im antiken Verstand- heitere Gelassenheit der milderen Hügel und Täler, die den Alpen vorgelagert sind und die schon einen Hauch ausonischer Lindheit einatmen, während vom Westen her wärmere ozeanische Luft französischen Esprit herüberweht. In diesem Klima, das den Oberrhein samt dem gesegneten badisch-württembergischen Winkel, dazu die Schweiz und Oesterreich, einbegreift, hat sich eine Kunst entwickelt, die von jeher auch d i e schöpferischen Menschen anzog, die, in rauheren Breiten geboren und aufgewachsen, aus Wahlverwandtschaft zum ihnen gemäßen Raum strebten, von Beethoven zu

Heinrich Laube, von Gentz zu den Balten wie neuerdings Bergengruen und Radecki. Hier erblühte die Magie des gemeisterten deutschen Wortes, auf das großartigste im Oesterreicher Karl Kraus und im Württemberger .Theodor Haecker. Und von da nimmt Theodor Heuss seinen Ausgang, nie den Ursprüngen untreu, mochte er auch ein Dritteljahrhundert in Berlin verbracht haben, sehr eingefangen vom spröden, scharfen Rhythmus dieser wuchtenden Stadt. Er ist in sie aus der schwäbisch-fränkischen Grenzlandschaft auf dem Umweg über München gekommen, wo der künftige Gelehrte, der Publizist und Politiker entscheidende Anregungen erfahren haben. Im Kreis um Lujo Brentano, in der jüngerhaften Freundschaft mit Naumann reifte Heuss zu sich selbst. Aus dieser Umwelt hat er, neben anderen wertvollen Gefährten, Hans Bott, den ehemaligen Verleger, gewonnen, der mit verstehender Sorgfalt die Auswahl und die Herausgabe der „Würdigungen“ vornahm und der an der Seite des Bundespräsidenten als dessen nächster Mitarbeiter tätig ist. Ministerialdirigent Bott gebührt Dank dafür, daß er dabei eine, nur dem Kundigen deutliche Treffsicherheit bezeigte, das über den Tag hinaus Gültige hervorzuholen und schon in der stofflichen Anordnung dem Buch den Charakter einer großartigen Symphonie zu geben; die in die starken Schlußakkorde des fünften Satzes ausklingt.

Diese Schlußakkorde heißen: „Das Mahnmal“ und „Vom Recht zum Widerstand“. Man möchte beide Reden, die kurze zum Gedächtnis der Opfer des Vernichtungslagers Bergen-Belsen und die längere, gehalten an der Berliner Universität am 19. Juni 1954 zu Ehren der Verschwörer vom 20. Juli 1944, am liebsten ganz abdrucken. Sie sollten jedem Deutschen gegenwärtig sein und im Ausland vom, und für den, wahren deutschen Geist Zeugnis ablegen. Das wehrlose Sterben im KZ war eine Elegie, der Opfertod der „Verräter“ an Hitler war eine „heroische Ballade“. Zwischen ihnen war „das elementar Sittliche die Bindung, hier stärker, dort schwächer wesenhaft religiös getönt, aber das Emotionelle dann doch in die rationalen Ueberlegungen eingegliedert“. Heuss entschleiert mit überzeugender Kraft die letztefi Hintergründe des Problems, ob Widerstand gegen die den Krieg lenkende faktische Staatsgewalt mit dem auf Eid beruhenden Treueverhältnis der Soldaten gegenüber ihrem Oberbefehlshaber vereinbar war. Er bejaht das Recht, ja die Pflicht zum Widerstand, weil jeder Treueid — abgesehen von seiner Freiwilligkeit — auf einem gegenseitigen Verhältnis basiert, das jedoch den Höheren gegenüber dem Nachgeordneten ebenso bindet wie den Untergebenen an den Vorgesetzten. Hitler hat derlei weder gekannt, noch anerkannt. Darum, weil die Männer des 20. Juli gegenüber dem Satanischen, Diabolischen, Dämonischen, gegenüber dem wesenlosen Schein des Niedrigen und Gemeinen das Recht und die Freiheit verteidigten, weiht ihnen der Bundespräsident „Dank für ein Vermächtnis, das durch das stolze Streben dem Leben der Nation geschenkt wurde. Die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, wurde durch ihr Blut vom besudelten deutschen Namen wieder wegsewischt Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch n i c h t e i n g e 1 ö s t.“

Dank und Verpflichtung, diese Worte kehren in fkn „Würdigungen“ oft wieder. Sie schlingen ein

Band zwischen den schon Verstorbenen, denen Nachrufe gewidmet werden, der Gegenwart, denen sie vorbildhafte Erinnerung sein sollen, und einer Zukunft, die sich in ihrem Schatten, in ihrem Glanz, aufbauen möge. Heuss versteht es mit Vollendung, Brücken von der Vorzeit zum Heute und Morgen zu schlagen, Tradition lebendig zu erhalten und dennoch dem unaufhörlichen Werden nicht den Weg sperren zu wollen. Die Kapitel über Goethe und Schiller, über Hebbel und Hofmannsthaf, Hesse und Schröder, Carl Jacob Burghardt und Paul Wegener ordnen Dichter und Schauspieler ins Allgemein-Menschliche ein; sie sind zumal von politischen, durchaus eigenständigen Erkenntnissen prall, sparen nicht mit kleinen Seitenhieben auf unberufene Herolde einer parteimäßigen, Mißzwecken dienstbar gemachten poetischen Glorie. Einzelnes, wie der Hymnus auf das in Hofmannsthal verkörperte Oester-reichertum dürfen als bewußter und glücklicher staatspolitischer Akt begrüßt werden, der seine Wirkung nicht verfehlte. Aehnlich fassen wir einen Absatz in dem herzlichen Bildnis Hesses und den Essay über Hodler auf, den Schweizern sicher zu Dank geschrieben. Die Seiten über den genialen Architekten Hans Poelzig bestätigen uns Heuss als einfühlsamen Deuter prophetisch der Zeit vorauseilender Baugesinnung.

Nun rollen in bunter Reihe Kurzfilme vor uns ab, die den Freiherrn von Stein und den Vater der Inneren Mission, Wichern, den Gesellenvater Kolping und den Erfinder-Industriellen Nikolaus August Otto, den sozialen Apostel des Klassenfriedens und Begründer der Zeiß-Werke, Abbe, dann die medizinischen Bahnbrecher Paul Ehrlich und Emil Behring heraufbeschwören. Ueberau erhascht Heuss den Anlaß, um persönliches Bekenntnis als Mahnung einzufügen; sei es bei Kolping, unter Hinweis auf Alban Stolz und Hansjakob, die Vergnügtheit in Gott der muckerischen Kopfhängerei gegenüberzuhalten, sei es, um, am Beispiel Abbe, den sozialen Frieden zu predigen, um die Internationalität der Wissenschaft zu unterstreichen. Drei Abschnitte handeln von der Göttinger Akademie, die kühl-hochachtend, von der Heidelberger Universität, die mit heißer Liebe geehrt wird, dann vom Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg, wobei mit Takt und Geschmack politische Lehre aus erlebter Geschichte gezogen und an einem neuralgischen Punkt der jüngsten deutschen Vergangenheit dargeboten wird.

Nachrufe auf Friedrich Eben, den Gewerkschaftsführer Hans Böckler, Kurt Schumacher, den württembergischen Wirtschaftsminister Wildermuth, den Ber-

liner Bürgermeister Ernst Reuter, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtshofes Höpker-Aschoff, den Kieler sozialistischen Oberbürgermeister Andreas Gayk und den schleswig-holsteinschen Ministerpräsidenten Lübke, auf den Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers, die Sozialreformerin Gertrud Bäumer, den einstigen Reichswehrminister Otto Geßler und den Publizisten Ernst Mayer. Schon sind wir bei einem neuen Kernstück der „Würdigungen“. Albert Schweitzer, Friedrich Meinecke, der Schweizer Jurist und Präsident des Roten Kreuzes Max Huber, der Maler und Innenarchitekt Richard Riemerschmidt, der Kunsthistoriker und erste deutsche Nachkriegsbotschafter in Frankreich Wilhelm Hausenstein, der Reichskunstwart Edwin Redslob, der Nationalökonom Alexander Rüstow, Reuters Berliner Nachfolger Otto Suhr und der Schulmann Theodor Bäuerle, mit Ausnahme des über 90jährig verstorbenen Meinecke lauter noch Leberde, empfangen Grüße ihres hoch-beamteten Freundes, und die bloße Tatsache der sie mit Heuss verknüpfenden Beziehungen reichte allein aus, um dessen Maß zu geben: „Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.“

Zuletzt die programmatischen Reden „Amerika wächst in sein Schicksal“, weder plumpe Verniedlichung noch törichtes Zerrbild; „Das Wagnis der Fremde“, eine Analyse des Deutschtums, wie es sich in der Weltluft entwickelt, wie es sein und wie es nicht sein soll; „Die Wirklichen Wurzeln“ oder von der prägenden Kraft der Landschaften und des Stammhaften, und „Wälder und Menschen sterben gemeinsam“, „Das Kriegsleid als verbindende Kraft“, zwei ergreifende Klagen und Anklagen, die in Heuss den Dichter nachweinen und die das Leid als den geometrischen Ort dartun, an dem einander die Ucberlebenden der Leidbringer begegnen, nicht zur Rache, sondern zur Versöhnung und zur „Verpflichtung: Frieden“. Die Sätze über „Um die Freiheit“, die Heuss am 21. Juni 1953 gesprochen hat, sind gewissermaßen Auftakt zu den beiden Schlußabschnitten des Bandes, mit denen wir, als den Leitmotiven, dem Motto des Buches unseren Bericht eingeleitet haben.

Mit Anmut und die tragische Atmosphäre durch schalkhaften Witz entspannend, führt uns Theodor Heuss durch die sechs Aufbaujahre 1949 bis 1955, während deren das deutsche Volk, dem Aergsten entronnen, Muße bekam, sich auf seine wahren Werte zu besinnen und den falschen Unwerten den rechten Sinn zu geben.

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