6706387-1964_01_13.jpg
Digital In Arbeit

Abschied von Theodor Heuss

19451960198020002020

ERINNERUNGEN. 1009 BIS 1933. Von Theodor Heuss. Rainer-Wunderlirh-Verlag Hermann Leins, Tübingen, 1983. 470 Seiten mit Personenregister. Frei 19.80 DM.

19451960198020002020

ERINNERUNGEN. 1009 BIS 1933. Von Theodor Heuss. Rainer-Wunderlirh-Verlag Hermann Leins, Tübingen, 1983. 470 Seiten mit Personenregister. Frei 19.80 DM.

Werbung
Werbung
Werbung

Mit tiefer Wehmut rufe ich heute, am Tag, da Heuss' Sterbliches in Stuttgart bestattet wird, die Erinnerung an den Großen im Reich des. Geistes und in dem der politischen Geschichte ein letztesmal wach, indem ich seinen Betrachtungen über die Jahre 1905 bis 1933 die ihnen gebührende Bewunderung zolle. In diesem Buch, das den Enkeln um die Septembermitte, zu deren Geburtstagen, gewidmet wurde und das also schon — und noch — das Zeichen des Todgeweihten und dennoch so Lebenssprühenden trägt, finden sich alle die herrlichen Eigenschaften wieder, die den Schriftsteller, den Gelehrten, den Kritiker, den Politiker, den Christen und den Menschen auszeichnen, den man dem gesamten deutschen Volk als liebevoll und ehrfürchtig gehörten Praeceptor Germaniae wünschen muß.

Unzertrennbar war das alles in seinem Wesen vereint: echte Frömmigkeit, hohes Ethos, Treue zur Nation und zum Vaterland, herzliche Güte und bezaubernde Umgangsart, die sich im Kreise der Familie aufs schönste bekundete, doch auch auf Ungezählte ausstrahlte, die ihn zum Freund gewannen oder denen er auch nur bei längerem Beisammensein begegnete. Seine nie versiegende Heiterkeit, sein Witz, mit dem er jederlei Aberwitz zum Schweigen brachte, seine Rednergabe, seine fachliche Kompetenz auf den mannigfachsten Gebieten: das findet man nicht so bald wieder. Es dünkt mich irrig, oder zumindest unzureichend, wenn man Heuss nur als Humanisten bezeichnet. Er war etwas Größeres und besonders in deutschen Gauen gar Seltenes: ein Homo universale, darin an Michelangelo, Tizian und andere große Italiener der Renaissance gemahnend, aber auch an den Prinzen Eugen oder an Leibnitz, an Goethe oder an de Gaulle: an jene begnadeten hors serie, die — nicht etwa alles verstehen, wie das PseudoÜbermenschen von sich glauben machen wollten, denn derlei Universalität ist menschenunmöglich — von Vielem viel verstanden und von dem, was ihnen unzugänglich geblieben war, entweder offen erklärten, davon verstünden sie nichts oder die sich, lag ihnen daran, in kürzester Frist sogar zum ihnen Fernstliegenden Wege bahnten.

Heuss hat schon im ersten Band seiner Erinnerungen, die sich „Vorspiele des Lebens“ nannten, den köstlichen Ertrag seiner Jugend dargetan. Künstlerische Fühlsamkeit, soziales Empfinden, philosophische Besinnlichkeit, Wortgewalt in Rede und Schrift, was alles er bereits beim Eintritt ins dritte Lebens Jahrzehnt besessen hat, sie werden durch eine weitere Gabe ergänzt, die ihrerseits den Maßstab für Heuss' Anziehungskraft bezeigt: die Zuneigung, die er sich bei seinen Lehrern erwarb und die Freundschaft, die ihn mit den Besten und Klügsten des damaligen Deutschland verknüpfte. Man wird nicht ohne Grund Liebling eines Lujo von Brentano, Friedrich Naumann, Albert Schweitzer und G. F. Knapp.

In seiner schalkhaft-bescheidenen Weise erzählt Heuss, wie er die Gunst dieser beiden berühmten Straßburger und die Liebe der Tochter des einen von ihnen, Elly Knapp, gewann. Schweitzer hat die beiden, Theodor und Elly, 1908 getraut; es wurde eine Musterehe: eine mit allen Vorzügen des Geistes, mit allen Reizen, mit gesellschaftlicher Gewandtheit, politischer Begabung, künstlerischem Sinn und unwiderstehlichem Charme gesegnete Frau stand fortan als unübertreffliche Lebensgefährtin zur Seite, stets dabei die eigene Persönlichkeit behauptend. Elly Heuss wirkte führend in der Frauenbewegung; sie hatte einen polltischen Salon, wenn es gut ging, und sie wußte das Dasein eines vom Krieg arg Heimgesuchten nicht nur erträglich, sondern noch glücklich zu gestalten, als der zweite Weltkrieg den als Gelehrten wie als Politiker bereits sehr hoch Emporgestiegenen aus der Bahn schleuderte. In den „Erinnerungen“ wird das alles mit rührender Zärtlichkeit und doch nicht ohne jene leise Ironie des Weisen geschildert, die von Theodor Heuss niemals verleugnet werden konnte. Durch seine Ehe trat er in einen, der Herkunft nach zweigespaltenen, doch beiderseits gar bemerkenswerten Familienkreis, von dem er in den „Erinnerungen“ nicht ohne kaum verhehlten Stolz erzählt. Professor Knappas Mutter, die Großmutter Ellys, wai eine Tochter des genialen Chemikers Justus von Liebig, dessen andere Töchter Adolf Harnack und Hans Delbrück geheiratet hatten. Ellys Mutter aber entstammte der russischen und der georgischen Aristokratie. Das trug dazu bei, den Horizont des jungen Gelehrten und Publizisten zu erweitern.

Den entscheidenden Abschnitt seiner ersten Jahre der völligen Reife bildete aber eine rein deutsche Aufgabe: an der Seite Friedrich Naumanns dessen Zeitschrift „Die Hilfe“ zu leiten. Dort ist er als Redakteur eingetreten, und er hat dieses wegweisende Organ einer nichtmarxistischen Sozialreform mit überlegener Meisterschaft geleitet. Durch seine eigenen Beiträge und durch die eines Kreises von Mitarbeitern, in dem es von gefeierten Namen wimmelte, haben Naumann und Heuss Einfluß auf die deutsche Elite geübt, der weit über den stets umgrenzten der Demokratischen Partei hinausreichte; in dieser, an bedeutenden Köpfen starken, an Wählergefolgschaft nur zu schwachen Fraktion fand Heuss einen mit Namen versehenen parteimäßigen Standort. Nach dem ersten Weltkrieg kam er als ihr Vertreter auf zwei Perioden in den deutschen Reichstag. Hier mehrte sich sein Ansehen noch durch die gehältigen und nie des attischen Salzes baren Reden. Doch, wie der polnische Voltaire, Bischof Krasnicki, sagte: „Der Kluge gewann im Disput, der Dumme aber schlug ihn nieder.“ So war Heuss seit 1933 zum Schweigen verurteilt. Seine Artikel durften nur unter Pseudonym erscheinen. Uber diese Zeit und über seinen späteren glänzenden Aufstieg bis zum ersten Bundespräsidenten berichtet der Memoirenband nicht, der mit der Machtergreifung Hitlers endet. Ein dritter Band sollte folgen. Hat Heuss ihn noch beginnen oder gar — wie er hoffte — ihn beenden können? Wir zweifeln daran, und es ist sehr schade um dieses berufenste Zeugnis über die drei letzten Jahrzehnte Deutschlands.

Nicht nur der Tatsachen halber, die neu ans Licht kämen oder die in neuem Licht gesehen würden, sondern vor allem um ein weiteres Meisterwerk der edelsten Prosa. Der Stil Heuss' ist unvergleichbar, klassisch. Seine kleinen Bildnisse der Zeitgenossen sind jedes meisterlich. Es ist schier unfaßbar, daß derlei harmonischer Bericht aus der Feder eines von schwerer Krankheit Heimgesuchten floß. Nur an winzigen Kleinigkeiten merkt der aufmerksame Leser, ganz selten, die Ermüdung — so etwa am steten Wiederholen der Eigenschaftswörter „bieder“ und „brav“ oder beim Verzicht auf Erwähnung einer gar wichtigen Episode in Naumanns Leben, bei der, soweit ich seinerzeit gehört habe, Heuss eine führende Rolle zugedacht war: der Gründung einer großen Tageszeitung in Wien unter den Auspizien des Thronfolgers, die als zweites Sprachrohr neben der „Reichspost“ gedient hätte und die für Kreise bestimmt gewesen wäre, die durch das christlichsoziale Organ nicht erfaßt wurden.

Im übrigen spürt der Österreicher auch aus diesem Band die Verbundenheit des nun Verewigten mit Wien, mit ganz Österreich und mit dessen Kultur. Kokoschka, Renner und Gustav Stolper tauchen als in ihrem Wert Erkannte auf.

Hugo von Hofmannsthal ist durch Heuss in einer einfühlsamen Rede gewürdigt worden, die auch gedruckt erschien. Die großen biographischen Werke Heuss' galten allerdings Reichsdeutschen. Schon eine Überschau ihrer Namen bekräftigt nochmals des Autors Vielseitigkeit. Da treffen wir den verehrten Meister, Friedrich Naumann, evangelischen Theologen und Politiker, Volkswirtschaftler und Publizisten, den Erfinder und Techniker Robert Bosch, den Zoologen Anton Dohm, den Baumeister Hans Poelzig. Schließlich hat Heuss, als Bundespräsident, das grandiose biographische Sammelwerk „Die großen Deutschen“ beseelt und geleitet. Und wie sehr sind seine wundersamen Reisen „Von Ort zu Ort“, seine Gespräche über Bücher und über Bildwerke, die er mit den Lesern ... oder eher mit Büchern und Bildwerken, mit deren Schöpfern und mit den dahinter beharrenden Ideen führte, in weite Volksschichten gedrungen! Seinen „Erinnerungen“ aber sollte es beschieden sein, womöglich noch tieferen und breiteren Nachhall zu wecken. Über das Grab hinaus spricht ein Praeceptor Germaniae zu den Deutschen, und darüber hinaus ein auserkorener Mensch zu allen, die für das Gute, Wahre, Große empfänglich sind. Möge diese Stimme nie verklingen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung