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Was ist Vertat?

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Der Verrat im 2 0. Jahrhundert. Für und gegen die Nation. Von Margret Boveri. Band I: Dai sichtbare Geschehen (153 Seiten). Band II: Das unsichtbare Geschehen (170 Seiten). Rowohlts a deutsche Enzyklopädie. Rowohlt-Verlag, Hamburg

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Der Verrat im 2 0. Jahrhundert. Für und gegen die Nation. Von Margret Boveri. Band I: Dai sichtbare Geschehen (153 Seiten). Band II: Das unsichtbare Geschehen (170 Seiten). Rowohlts a deutsche Enzyklopädie. Rowohlt-Verlag, Hamburg

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Kleine Taschenbände wiegen heute oft schwerer als manche dickleibigen, in steifes Leinen gebundenen Bficher. Bei den beiden vorliegenden aus dem Sachgebiet Zeitgeschichte von Rowohlts deutscher Enzyklopädie ist dies zweifelsohne der Fall. Eine intelligente Frau hat sich ein ausgesprochenes „Männerthema“ gewählt. Denn Verrat ist auch im 20. Jahrhundert, das die Frau zur vollen Gleichberechtigung aufsteigen sah. ein „Vorrecht“ der Männer geblieben. Wir kennen große Spioninnen — die Geheimdienste machen vor der Frau nicht halt, im Gegenteil —, aber große Verräterinnen hat uns die Weltgeschichte bisher doch erspart.

Wie kam die langjährige Mitarbeiterin der „Frankfurter Zeitung“ und heutige Korrespondentin namhafter Blätter der Deutschen Bundesrepublik zu dem Vorwurf für ihr ebenso großes wie dorniges Thema? Margret Bovert, die in ihrer Studienzeit auch in Neapel gearbeitet hatte, gibt selbst Auskunft: ,,In der zoologischen Station in Neapel, wo Forscher aus den verschiedensten Nationen der Welt in einer Zeit aufeinandertrafen, als* das gegenseitige Mißtrauen aus dem ersten Weltkrieg nur unvollkommen überwunden war, habe ich erfaßt, wie schwer, aber auch wie notwendig es ist, sich in die Vorstellungswelt von Menschen mit anderer Sprache, Erziehung und Geschichte zu versetzen ... Die Erfahrung, daß Personen, die ich nicht als Verbrecher ansehen konnte, mit den verschiedensten Begründungen, aber in meist sehr gleichförmiger Weise verhaftet, mißhandelt, oft auch hingerichtet wurden, hat mich zum Nachdenken über die Besonderheiten meiner Zeit gezwungen. Die Entdeckung, daß dem einen als Hirngespinst oder Lüge erscheint, was für den anderen eine feststehende Tatsache ist, hat mich gelehrt, daß die Objektivität und die alleinige Herrschaft des Kausalgesetzes, die mir in meiner Jugend selbstverständlich waren, ihre Grenzen haben.“

Mit diesen Worten erklärt uns die Verfasserin nicht nur, wie sie zu ihrer vorliegenden Arbeit, die übrigens durch die Bände „Für und wider die Ideologie“ fortgesetzt werden soll, gekommen ist, sie verrät dem Leser auch einiges über ihre Arbeitsmethode und über den Standort, den sie als Beobachterin über der Landschaft des Verrates bezieht. „Die einzelnen Personen nach ihren eigenen Maßstäben und ihrer eigenen Wahrheit zu schildern versuchen“, ist gewiß ein sehr menschliches, ein sehr fraulich-mütterliches Vorhaben. Wir möchten ihm unseren Respekt nicht versagen. Bald zeigt es sich jedoch, daß Margret Boveri so weit vom Ufer ihres früheren objektiven, allein vom Kausalgesetz beherrschten Denkens abgestoßen ist, daß sie auf dem von Leidenschaften gepeitschten Ozean der Weltgeschichte in Gefahr gerät, die Orientierung zu verlieren.

Knut Hamsun war bestimmt ein großer Dichter, dem man ob seiner Irrtümer im hohen Alter nicht, wie es in der ersten Gemütsregung nicht weniger seiner Landsleute zunächst geschehen ist, als „Faschisten“ klassifizieren und abtun kann, die Tragödie des Amerikaners Ezra Pound, den die Amerikaner noch heute im Irrenhaus hüten, um sich und ihrem größten Dichter den Hochverratsprozeß zu ersparen, hat noch immer keine Wendung zum Guten erfahren. Der Tod Lavais, mag man über seine Politik denken und urteilen wie immer, war bestimmt kein Ruhmesblatt für die IV. Republik. Und können nicht auch ein Quisling und alle übrigen Männer, die der Kollaboration mit Hitler und seinem „Neuen Europa“ das Wort redeten und von ihren Landsleuten nachher geächtet und zum Teil getötet wurden, Gutpunkte für sich buchen, ja sogar vielleicht auf ein gewisses Verständnis rechnen, wenn man — wie die Verfasserin in vorbildhafter Weise es versucht — vielfach psychologisch die Motive ihres Handelns erklärt. Die Bemühungen mit den Augen der verschiedenen Verräter den Verrat zu sehen, mit ihrem Kopf zu denken, mit ihrem Herzen zu fühlen in Ehren — allein was bleibt? Nicht viel mehr als die alte Pilatus-Frage: „Was ist Wahrheit?“ für das 20. Jahrhundert neu formuliert: „Was /ist Verrat?“

Bei einer solchen Optik muß aber jedes geistige, politische und moralische Koordinatensystem letzten Endes zu verschwimmen beginnen. Dabei beklagt doch niemand mehr als die Autorin, daß das in früheren Jahrhunderten so eindeutige Faktum „Verrat“ in unserer Zeit vieldeutig und vielschichtig geworden ist. Ist es dies aber wirklich? Ein Beispiel aus der Gegenwart: Janos Kadar in Ungarn. Der durch die AVH gefolterte Altkommunist, der, als mit dem Stalinismus auch der Kommunisinus zusammenzubrechen droht, seine ehemaligen Kerkermeister zu Hilfe holt: das ist ein Fall, der noch der psychologischen Röntgenisierung durch Margret Boveri in der Fortsetzung ihrer Arbeit wartet. Kadar ist sicher eher ein armer Teufel als ein abgrundschwarzer Bösewicht. Dennoch: seinen Verrat an Ungarn, an seinem Volk und seiner Revolution nimmt ihm niemand ab. Kein Historiker und auch kein Psychologe. Nicht einmal die Verfasserin.

Wir können und sollen zu verstehen suchen, aber wir dürfen uns nicht um jeden Preis unsere Hände in Unschuld waschen und uns vor einem Urteil drücken. Um so eher als der Historiker nicht mit Pulver und Blei seinen Spruen, wollzieht. Begnügen wir uns dagegen mit einem Relativismus bei der Be- • urteilung des Phänomens „Verrat“, mag er auch humanistisch etikettiert sein, so werden die letzten Dinge wieder einmal ärger als die ersten werden. Die Landschaft des Verrats würde ihre Grenzen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts widerstandslos über weitere Provinzen ausweiten.

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