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Die Mappe des Gedankensammlers

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AUFZEICHNUNGEN 1942 bis 1948. Von EUas Canettl. Im Carl-Hanser-Verlag, München. 204 Selten. Prela 13.80 DM.

Der leidenschaftliche Sammler muß seine Leidenschaft unterkühlen. Denn nur so bringt er die Geduld und die Akribie auf, ein Leben lang bestimmte Dinge unter bestimmten Gesichtspunkten zu sammeln und zu ordnen. Sobald ein Nebenzweck — häufig etwa der einer Wertanlage — bewußt angestrebt wird, ist die äußerste Subjektivität der Sammlung gefährdet, und sie verliert an Orientierungskraft. Solche, für den ernsten Sammler, nicht für den launischen Reiter eines Massensteckenpferdes, gültigen Maximen kann man auch auf Ellas Ca-netti anwenden. Er kommt aus dem Balkan, wurde in Wien assimiliert und vertrieben und feierte in London seinen 60. Geburtstag und die Anerkennung seiner Prosa- und Bühnenwerke im englischen und deutschen Sprachraum. Canetti sammelt Gedanken, eigene Gedanken, wie andere Schmetterlinge oder Briefmarken sammeln. Er sammelt kühn und kühl und verbissen, über Jahre und Jahrzehnte, und er gewinnt die Bewältigung der Zeit

Das Interesse für die Werke Ca-nettis hat nun die Herausgabe von „Aufzeichnungen“ aus den Jahren 1942 und 1948 begünstigt. Es sind das, zumindest in der veröffentlichten und nach Verlagsangaben gekürzten Form, keine Tagebücher. Ohne Datum, ohne Bezug auf Orte und Personen reihen sich die Notizen aneinander, einmal sprachlich befreiend, anklagend, bestätigend —

exakt, scharf pointiert und poliert, ein andermal offen, kaum originell, gemeinplätzig. Es kommt eben so, und der Sammler sammelt. Oft und gerade dann, wenn die Sprache geschliffen funkelt, wenn das Entsetzen dem Schreiber über die Schulter schaut, wird eine eiskalte, ästhetisie-rende Distanz fühlbar, eine herzlose Artistik, die den Leser auch etwa bei Ernst Jünger an bestimmten Stellen abstößt. Wie bei Jünger liegt zweifellos auch hier die arrogante Notwehr von besonders sensiblen Geistern vor.

Der Psychologie der Massen, der Freiheit und ihrer Bedrohung durch Barbarei in vielfältiger Gestalt, gilt Canettis vorwiegende Teilnahme. Damit ist eine Geistesverwandtschaft zu Hermann Broch angedeutet, die in dem vorliegenden Band durch eine am Ende angefügte Rede auf den Dichter aus dem Jahre 1936 ihre Bestätigung findet. Die innerweltliche Humanitas und die Sublimie-rung des Gewissens in überreife Kulturformen, die Broch auszeichnen, gehören auch zur Weltanschauung Canettis und erklären den Ursprung vieler Sätze. Solcher, denen man beipflichten kann ob ihrer Wahrheit oder Schönheit — und solcher, hinter die man ein kritisches Fragezeichen setzen kann oder muß. Die durch keine Handlung zusammengehaltene Form der „Aufzeichnungen“ erlaubt eine solche Ausklammerung ohne Zerstörung.

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