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Ein prähistorischer Roman
DIE ERBEN. Roman. Von William Goliinj. Aus dem Englischen von Hermann S i e h 1, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1964. 334 Seiten. Freis 6.80 DM.
DIE ERBEN. Roman. Von William Goliinj. Aus dem Englischen von Hermann S i e h 1, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1964. 334 Seiten. Freis 6.80 DM.
Seit seinem ersten Roman, „Der Herr der Fliegen”, gilt William Golding bei der englischen Kritik als ein Autor, der abseits der Tradition des gesellschaftskritischen Romans steht, ob nun der Ausprägung, die sie bei Angus Wilson gefunden hat, oder derjenigen von etwa Allan Sillitoe oder Kingsley Amis, um einige seiner Generation zu nennen. Er gewinnt seine Themen nicht aus der Beobachtung irgendeiner Gesellschaftsschicht, sondern durch die Konstruktion eines Modellfalls. In dem zuerst erwähnten Buch, das übrigens verfilmt wurde, hält sich eine Gruppe von Knaben auf einer Insel auf. Zwischen den Anführern der Gruppe kommt es zu Streitigkeiten. Die Knaben verwildern und essen schließlich in einem religiösen Zeremoniell den Anführer auf. Im Roman „Der freie Fall” wird die Geschichte des Baumeisters einer mittelalterlichen Kathedrale erzählt. Im vorliegenden Roman schließlich greift er weit zurück, weiter, als die überlieferte Geschichte reicht.
„Die Erben” sind die Überlebenden eines paläolithischen Stammes, der sich in einer bibelhaften, prälogischen Sprache verständigt und noch nicht die Technik des Feuermachens kennt. Der Stamm, eine große Familie, wird in seinem Bereich, in den er zu Beginn des Frühjahrs zurückkehrt, von einer anderen Menschengattung überfallen, die bereits Pfeile und Bogen kennt und in Kanus angepaddelt kommt. Die Fremden rauben ein Kind des Stam mes, einigen Stammesmitgliedern gelingt es, sich in den Bäumen zu verstecken, andere gehen zugrunde.
Ein solcher Stoff muß den Schrift steiler, der nicht in die Bereiche der Jugendliteratur zurückfallen will, vor schwierige Aufgaben stellen. Die Psychologie der Gestalten, nur in groben Zügen aus der Forschung bekannt, muß vorsichtig und ohne Übertreibung geschildert werden, die Handlung muß sich ihr anpassen, schließlich haben die Dialoge den Eindruck zu erwecken, als seien sie so und nicht anders möglich gewesen. Diese Anforderungen bringen an die Sprache Prämissen heran, aus denen sich notwendig eine gewisse Steifheit, ein gewisser Ernst, ein Mangel an Ironie ergeben. Was freilich im üblichen Zusammenhang als literarischer Fehler erscheinen mag, ein Zuviel an Pathos und zuwenig an Leichtigkeit, wird in diesem Fall dem Stoff kongruent und nicht anders denkbar. Dem Autor geht es offenkundig um einen menschlichen Bereich, in dem die einzelnen Triebe noch ungebrochen, ohne die Hemmungen der Ratio und nur durch mündliche Überlieferung zum Teil tabuisiert wirksam sind. Die Gesellschaft, durch einen kleinen Stamm repräsentiert, steht knapp an der Schwelle eines Aufbruchs, mitten im Übergang, der sich im großen Zusammenhang der Menschheit, nicht im kleinen des Stammes, zeigt. Dadurch werden die existentiellen Probleme aktualisiert. Die Fabel, denn zu einer solchen wird der Roman, gerät zum vielschichtigen Paradigma, die traditionelle Form wird durch den ungewöhnlichen Stoff zum mustergültig durchgeführten Experiment.
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