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Shakespeare zwischen Dostojewskij und Huxley

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Shakespeare, der Mensch. Betrachtungen über Leben und Werk, nach einem Porträt. Von I. Dover Wilson. Marion-von-Schröder-Verlag, Hamburg. Preis 10.80 DM

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Shakespeare, der Mensch. Betrachtungen über Leben und Werk, nach einem Porträt. Von I. Dover Wilson. Marion-von-Schröder-Verlag, Hamburg. Preis 10.80 DM

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Zunächst gab es Shakespeare, dann gab es Shakespeares Werk, groß und in seiner ganzen Weite schwer zu übersehen, dann gab es Werke über Shakespeares Werk, große, kleine und in ihrer Gesamtheit so schwer zu übersehen, daß bald Werke über die Werke erschienen, die sich bisher mit Shakespeares Werk befaßt haben, und nun wird es bald Werke . .. nun, und so fort. Mit anderen Worten, man tritt einer neuen Arbeit über den großen Engländer mit etwas Reserve gegenüber. Muß das sein? fragt man unwillkürlich. Oder: Kann hier wirklich etwas Neues gebracht werden? Bei näherem Nachdenken erweist sich jedoch, daß man die erste Frage wohl bejahen, die zweite aber verneinen kann. Es zeigt sich nämlich auch hier, daß alle alten Erkenntnisse nur bedingt verwertbar sind, daß Wir alles von neuem durch- und erarbeiten müssen, daß jede Generation sich mit den großen Erscheinungen der Literatur nochmals zu befassen hat. Das Kriterium, ob ein neues Werk über Shakespeare vertretbar oder begrüßenswert erscheint, kann daher nicht in der Auffindung neuer Quellen und unbekannten Materials liegen — bei kaum einer Erscheinung der Weltliteratur wären solche Entdeckungen unwahrscheinlicher —, man muß vielmehr bei der Lektüre feststellen, ob man Shakespeare plötzlich mit anderen, neuen und frischen Augen betrachtet, ob er plötzlich einen gesteigerten Bezug auf unser eigenes Dasein hat. Gerade dieses Gefühl aber stellt sich bei der Lektüre des schmalen Bandes von J. Dover Wilson in außergewöhnlicher Stärke ein. Lebhaft, anregend und völlig frei von jenem feierlich-pedantischen Ton anderer Shakespeare-Forscher — „das Theater der Shakespeare-Zeit war nicht viel größer als ein Tennisplatz“, heißt es an einer Stelle, und an einer anderen: „Die Schauspieler waren dem Publikum so bekannt wie heute Fußballspieler“ — wird die Riesengestalt des Briten * sozusagen mit all ihren Wurzeln und der sie umgebenden dunklen Erde der elisabethinischen Tage in unsere Zeit gesetzt, Parallelen zu Huxley, Aehnlichkeiten mit Dostojewskij werden mit natürlicher Sicherheit gezogen. Das vorliegende Werk ist weder eine Biographie noch eine kritische Betrachtung einzelner Werke; im Laufe eines langen, Shakespeare gewidmeten Lebens drängte sich offenbar bald diese, bald jene Erkenntnis über Werk und Mensch auf, die dann zwanglos chronologisch aneinandergereiht wurden. Der so entstandene Eindruck ist von großer Kraft, viele Dinge, die man schon bisher wußte — wie etwa die Verdüsterung von Szenerie und Gemüt nach dem Tode Essex' —, nehmen den Wirklichkeitsgehalt einer uns unmittelbar bedrückenden, ja bedrohenden Tatsache an. Ein wenig unverständlich bleibt dabei der Untertitel „Nach einem Porträt“, gemeint kann damit nur das sogenannte „Grafton-Porträt“ sein, und es ist dem Verfasser nicht verborgen geblieben, daß die Person des Dargestellten Shakespeare sein kann, aber keinesfalls sein muß. Warum also vorgeben, daß eine wissenschaftlich völlig fundierte Darstellung auf einem zweifelhaften Fundament ruht?

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