6546289-1947_17_07.jpg
Digital In Arbeit

Zeitnahe Kunst?

Werbung
Werbung
Werbung

Immer wieder hören wir den Ruf nach planvoller Pflege zeitnaher Kunst. In einer Epoche grundstürzender Wandlungen auf allen Lebensg ^bieten, drängender Auseinandersetzungen mit den Kardinalproblemen unserer physischen und geistigen Existenz, des Ringens nach Dauerndem und Bleibendem inmitten einer wirren Flucht ephemerer Truggebilde dünken uns — so wird argumentiert — die Ladenhüter klassisdier Kunst oder Wölkenkuckucksheim erlogener Phantasie abgeschmackt. Was uns zuinnerst bewegt, was ans jeden Tag beschäftigt, jede Nacht heimsucht, das wollen wir — so heißt es — auf der Bühne, im Buch und Bild wiede-finden, um im Spiegel der Kunst uns selbst mit unseren Möten und Schmerzen zu erkennen.

In der Tat scheint diese Forderung — sofern sie ehrlich gemeint ist — durchaus berechtigt. Jede Zeit hat Anspruch auf ihre Kunst, so auch die unsere. Erlebnisnähe und Erlebnisferne der Kunst sind oft diskutiert worden, und ganz gewiß sind auch die gewaltigen, Jahrhunderte überdauernden Schöpfungen der Größten den Schwankungen der Aufnahmsbereitschaft ihres ; Publikums unterworfen. Ein noch so geheiligter Name, ein noch so häufig sanktioniertes Urteil der Ästheten kann nicht die luftleere Langeweile hinwegseht uchen, die sich auf eine oft geheimnisvolle Weise zwischen Werk und Öffentlichkeit schleicht und eine unsichtbare, aber unübersteigbare Mauer des Unverständnisses, der Teilnahmslosigkeit aufrichtet. Ein gedankenloses Zurückgreifen auf die „ewigen Werte“ unseres geistigen Besitzes hat noch nie zum Ziele geführt.

Wohl aber wird eines leicht vergessen: die Umsetzung der aktuellen Probleme in künstlerische Werte braucht Zeit, die Umprägung, der ein tiefgehender seelisch-geistiger Läuterungsprozeß vorangehen muß, kann nicht erzwungen werden. Hat es nach dem ersten Weltkrieg nicht mehr als zehn Jahre gedauert, ehe auch nur die ersten wirklich bedeutenden Bekenntnisbücher, Erlebnisberichte erschienen? Hat nicht einst die geistige Auseinandersetzung mit einer Gestalt wie Napoleon (Grillparzer, Hebbel!) erst Jahre, viele Jahre nach seinem Sturze künstlerische Früchte gezeitigt? Auch die geistigen Früchte reifen nicht von heute auf morgen. Das erschütternde Erlebnis einer Generation sofort umzumünzen, das heiße, Idas noch zuckende Herz eines zu Tode Getroffenen zu präparieren und zu präsentieren,! ist Sache fingerfertiger Skribenten und er|regt mehr Ekel als Befriedigung. Von allen bisher erschienenen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Geschehen der letzten Jahrzehnte erscheint mir allein Werfeis „Jakobowsky“ gültige Größe zu erreichen, und selbst dieses Werk entbehrt eies Letzten an menschlicher Klärung und dichterischer Objektivierung.

Dazu ein zweites: die Eri;bnisnähe eines Kunstwerkes ist keineswegs mit zeitlicher Nähe gleichzusetzen. Wie der Künstler Jahre braucht, um sein Erlebnis innerlich zu verarbeiten und in klare Formen umzugießen, so benötigt gerade das dauernde Werk Jahre, um durchzudringen. Selten ist einem großen Wurf ein rascher Erfolg zuteil geworden, denn die breite Öffentlichkeit kann — dem in ihr wirkenden Beharrungsgesetz (Trägheitsgesetz) zufolge — dem Weg des Schaffenden nicht mit gleicher Geschwindigkeit folgen. Dagegen ist es den bleibenden Werken eigen, jeder Generation neu -^nd anders zu erscheinen und nach Jahren scheinbar unrettbarer Veralterung plötzlich überraschend aktuel' und zeitnah zu wirken. Dünken uns Heutigen die Erlebnisse des Odysseys oder des Agamemnon nicht als gigantisches Heimkehrerschickai, erscheint uns das Humanitätsevangelium der „Iphigenie“, des „Nathan“ nicht in völlig neuem Lichte? Rührt .nicht die politische Weisheit des „Bruderzwistes“, der „Libussa“ an unser innerstes Ringen? Gewinnen nicht ..Richard III.“, „König Ottokars Glück und Fnde“ atemraubende Aktualität? Nicht, daß wir einer krampfhaften, sichtbar gewollten Umdeutung und damit Verzerrung (wie sie gelegentlich von effektsicheren Regisseuren unternommen wurde) das Wort reden. Ohne verstimmende Absicht zeigen uns diese Werke ein neues, beklemmend zeitnahes Antlitz.

Und nun das Wichtigste: Nicht immer bedeutet Erlebnisnähe eine weitgehende Ubereinstimmung der Erlebnisse in Kunst und Alltag, nicht selten sogar — nach einem geheimnisvollen psychologischen Gesetz — das Gegenteil. Denn gar manchesmal bedeutet Kunst: Fludit aus dem würgenden Gleichmaß des Tages, Ergänzung der eigenen, ach so eng umschränkten Persönlichkeit durch alles, was — scheinbar — fernliegt. „Wo ich nicht bin, da ist das Glück“ — das Glück auch des künstlerischen Erlebnisses, das nicht zuletzt Spiegelung des Wunschtraumes ist, also des potentiellen, nicht aktuellen Ich. So erklärt sich nicht bloß die ungeheure Breitenwirkung des Films, der Operette (die wohl im allgemeinen den niedrigeren Bere'chen künstlerischer Wirkung beizuzählen sind), so erklärt sich alles, was Märchen, Sage, Illusion, ja alles, was holde, nie zu missende Romantik ist. Wäre es anders, so wäre Kunst ja wirklich „Nachahmung der Natur“, was heute wohl kein Einsichtiger wahrhaben wollte.

Was aber tun? Sollen wir tatenlos zuwarten und indessen in den Sdiätzen der Vergangenheit stöbern, uns aussdiließlich an Grillparzer, Goethe, Shakespeare halten,um Antwort of die brennend Selennot unserer Tage zu suchen? ■,— Nein! Wir können, wir müssen von Bühnenleitern, Verlegern und Kunstinstituten fordern, daß sie das zeitgenössische Schaffen mit wachsamem Auge und verständnisvollem Sinne verfolgen, daß sie die eingereichten Werke nicht bloß vom geschäftlichen Standpunkt überprüfen und jedem ernsten und gekonnten Werk die Möglichkeit bieten, zu .wirken — gleichgültig, ob es zeitnah erscheine oder nicht (was nämlich gar nicht so leicht zu beurteilen ist). Aber wir dürfen nicht die Schaffenden mit den Forderungen des Tages bedrängen und sie durch Vorspiegelung einer Erfolgchance dazu ver-loden, unreife Früchte vom Baum zu schütteln. Der wahrhafte, verantwortungsbewußte, selbstkritisdie Künstler wird dieser Verlockung immer widerstehen, das Heer der Schreiberlinge aber — Freunde, wir haben's erlebt — stürzt sich auf die gebotene Konjunktur und überstürzt sich in der „Ausfertigung“ von Produkten, die der Sphäre des Leitartikels oder des Feuilletons eher zugehören als der Kunst. Und bei näherer Bekanntschaft mit dem Produzenten erweist es sich oft genug, daß er...es ror zwei, drei Jahren auch nicht anders gemacht hat, nur mit verändertem politischem Vorzeichen. Es gibt keine staatlich gelenkte Kunst und auch keine von der Öffentlichkeit diktierte Kunst! Wer anderer Meinung ist, der trägt noch — bewußt oder unbewußt — die Giftstoffe einer hoffentlich überwundenen Ära der „Totalität“ in sich. Noch wirbelt der Staub über der Walstatt des geistigen und physischen Kampfes — erst wenn die Atmosphäre geklärt ist, wird uns der künstlerische Ausdruck dieses Kampfes, in gültige Form und Farbe gebannt, vor Augen treten. Die Ungeduld kann das Wachstum der Früchte nicht beschleunigen, und auch vom Werk des Schaffenden gilt, was Egmont vom Schlafe sagt: Er kommt „wie ein reines Glück, ungebeten, unerfleht am willigsten“.

Mit anderen Worten: Tut nichts, um die künstlerische Gestaltwerdung des Zeitgeistes durch überhitzte Forderungen zu besdileu-nigen, sonst wird euch statt der künstlerischen Gestalt eine künstliche Konstruktion zuteil. Tut aber alles, jene wundersame, befreiende Erscheinung, wenn sie einmal unter euch tritt, nidit unerkannt im Dunke! harren zu lassen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung