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Wunschtraum: Lust ohne Leid

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Auch 100 Jahre nach Aldous Huxleys Geburt hat dessen Hauptwerk „Schöne neue Welt" nichts von seiner bedrückenden Aktualität verloren.

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Auch 100 Jahre nach Aldous Huxleys Geburt hat dessen Hauptwerk „Schöne neue Welt" nichts von seiner bedrückenden Aktualität verloren.

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Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit", lautet das Credo der „Schönen neuen Welt", einer betäubten und entmündigten Weltgesellschaft ohne Schmerz und Leiden. Aldous Huxley beschreibt in seinem 1932 erschienenen Roman einen perfekt funktionierenden Weltstaat im Jahre 632 A. F. (Anno Ford), der von im Reagenzglas produzierten Kastenwesen bewohnt wird. Nach dem letzten großen neunjährigen Krieg, der 141 A. F. begann, sind die globalen Massen-Vernichtungskämpfe seit langem zu Ende. Abgesehen von einigen wenigen gentechnisch fehlkonditionierten Außenseitern sind die Menschen, betäubt durch die Wunderdroge „Sorna", wunschlos glücklich. Kein Wunder, liegt doch die gesamte staatliche Macht in den Händen von zehn^ „weisen" Weltkontrolleuren, die diesen hochtechnisierten Zukunftsstaat leiten.

Der uralte Traum einer schmerzlosen Welt darf mit Hilfe einer systematischen Eugenik und Gentech nik geträumt werden: Denn der Mensch wird mit Hilfe von Retorten und Embryoflaschen in der Londoner Weltbrutzentrale synthetisch und serienmäßig hergestellt. Verschiedene Menschentypen, wie Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- und Epsilon-Kastenwesen werden produziert. Das sich an hoch- beziehungsweise minderwertigem Sperma orientierende Befruchtungsverfahren ermöglicht die künftige Auslese der

Eliten und Sklaven. Während die ranghohen Alpha-Menschen nur aus einem Ei entstanden sind, ist es nach dem „Bokanowsky-Prozeß" möglich, bis zu 96 identische, sklavische Delta- und Epsilon-Typen zu erzeugen. Da der Intelligenzquotient bei den künftigen Kastenwesen von entscheidender Bedeutung ist, spielt die Sauerstoffzufuhr eine zentrale Bolle. Durch Drosselung der Alpha-Sauerstoffzufuhr-Menge erhält die zentrale Brut- und Normanstalt den gewünschten Kastenmenschen oder auch notwendige nützliche Zwerge und deformierte augenlose Monstren.

Nach der „Entkorkung" aus der Flasche werden die Kinder in staatlich gelenkten Kinderheimen von normierten Erziehern zu ebenfalls normierten Kollektivmenschen erzogen. Von den .verschiedenen Verfahren erwies sich die „hypnopädische" als die erfolgreichste: Nachdem die Kinder in einen künstlichen Schlummerschlaf versetzt wurden, werden ihnen leicht verständliche propagandistische Floskeln und Sätze vorgesagt, die sie später überzeugt nachplappern. Hinzu kommen kastenspezifische Behandlungen, etwa für die Delta-Menschen: Bilderbücher mit Naturaufnahmen werden unter Strom gesetzt, aufgrund des Schocks entwickeln die Deltas als spätere Fabriksarbeiter eine Abneigung gegen die Natur.

Da der künftige Kastenmensch trotz ständiger Normierung und Bearbeitung noch letzte individuelle

Ansichten haben kann, wird er unter das Joch einer universellen Sehnsucht gespannt: „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit". Solidaritätsveranstaltungen vermitteln das Gemeinschaftsgefühl: Im Zwölferkreis versetzen sich die Gruppenmitglieder mit Hilfe der Glücksdrogen Sorna und Adrenalin in einen ekstatischen Zustand, um mit den anderen Gruppenmitgliedern eins zu werden. Letztlich benötigt der Weltstaat glückliche, zufriedene Kastenmenschen, die vor Nachdenken und unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen gefeit sind, um die Arbeit an den Fließbändern und Maschinen brav und fleißig verrichten zu können.

Zusammengehalten wird die Gesellschaft vom Rauschmittel Sorna. Dieses versetzt den Menschen in einen traumhaften Zustand, „soma-holidays" genannt. Von Jugend an werden Körper und Geist des Kastenmenschen an dieses Sorna gewöhnt. So führt bereits ein Tag ohne Sorna bei den staatlich gezüchteten Rauschgiftsüchtigen zu Depressionen und Qualen.

Die mögliche Spannung zwischen Wunsch und Erfüllung wird im zwischenmenschlichen Bereich einfach gelöst: Man gibt sich der staatlich geförderten Promiskuität hin. Nicht persönliche Zuneigung, sondern Sinnenlust treibt die Menschen an, einander zu begegnen, und nach vollzogener sexueller Befriedigung wieder das Weite zu suchen. In einer Welt der staatlich forcierten Technik-

Ideologie ist für Geist und Religion kein Platz mehr. Denn die Möglichkeit von Gotteserfahrung existiert nicht mehr, die Leid-Frage wird durch die Droge Sorna mit glücklichen, zufriedenen Menschen beantwortet. „Ford", der Repräsentant der neuen Zeit, wird gottähnlich verehrt, da durch seine Erfindung der Fließbänder eine maschinelle Massenproduktion ermöglicht wurde.

In dieses Zwangssystem stolpert der in einem „Reservat" lebende „Wilde" John Savage und erfährt sich als Außenseiter dieser „Happi-ness"-Gesellschaft. Angeekelt von dieser unmündigen Sklavenhalter-Gesellschaft will sich John zurückziehen. Doch die Massen terrorisieren den unangepaßten „Wilden", der, an sich selbst irre geworden, seinem Leben ein Ende macht.

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