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Zum Nachdenken

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Mit Georg Büchner hat Grass in seinem dramatischen Oeuvre das im Grunde Undramatische gemeinsam, das Aneinanderreihen von Szenen und Bildern ohne kausalen Zusammenhang: solches ist ein Handikap bei Büchner, selbst wenn er als heftiger Revolutionär seine Charaktere psychologisch durchdringt — es ist ein um so größeres Handikap bei Grass, bei dem es sich nach seinen eigenen Worten immer um einen „analytischen Prozeß, mit Mitteln der Literatur ausgeführt“, handelt, ob er nun ein Stück oder einen Roman oder ein Gedicht schreibt.

„Davor“, sein jüngstes, im Berner Ateliertheater zur schweizerischen Uraufführung gelangtes Bühnenwerk, mit seinem gleichzeitig erschienenen Roman „örtlich betäubt“ in engstem Zusammenhang und auf weite Strecken ausdrucksidentisch, strebt die szenische Präsentation der Problematik eines jugendlichen Linksdrall-Protestschülers an, welcher eine Süßigkeiten schleckende Wohlstandsgesellschaft der freien Welt durch spektakuläre Verbrennung seines Hundes auf dem Berliner Kurfürstendamm aufrütteln möchte, etwas gegen die Kriegführung der Amerikaner in Vietnam zu unternehmen. Auf der Bühne wird das „Davor“ dargestellt, wird über die Gründe des jungen Mannes für eine solche schreckliche Tat und über die Gegengründe nach allen Regeln des Dialektizismus palavert: Außer dem Schüler, der schließlich von seinem Vorhaben abkommt, erscheinen als Personen, welche sich mit dem Plan befassen, seine Kollegin Veronika, von der Grass sagt, daß sie ihren Mao „schmökert“ wie einst Großmutter ihren Rilke, dann der Lehrer, ein kompromißbereiter Brückenschläger zwischen der Tradition und dem Neuen, die Lehrerin, die daran leidet, als Siebzehnjährige eine naziergebene Denunziantin gewesen zu sein, und ein Zahnarzt als Sinnbild des wissenschaftlichen, unbedingten Vertrauens auf den Fortschritt der Menschheit.

„Ich versuche", lautet des Autors Präambel zu seinem Stück, „dialektisch zu klären, was alles passiert, bevor es zur Tat kommt oder nicht zur Tat kommt. Ich möchte nämlich die dramatischen Akzente verschieben. Ich möchte von dieser etwas vordergründigen Dramatik, die die Tat in den Mittelpunkt stellt, im Mittelpunkt der Theaterspannung hält, wegführen, weil uns das nicht weiterführt. Ich glaube, daß das, was davor liegt, was eine Tat produziert oder einer von Anfang so geplanten Tat später andere Akzente gibt, für unser Begriffsvermögen heute spannender sein kann als das Anhäufen von Leichen auf der Bühne...

Der Regisseur der schweizerischen Erstaufführung, Klaus W. Leonhard, zog sich angesichts der Widerborstigkeit der Materie mit der Erklärung im Programmheft aus der Affäre, die Absicht seiner Inszenierung sei, den Zuschauer zum Nachdenken zu bringen. Man muß Leonhard freilich bescheinigen, daß er sich durch die minutiöse Einstudierung des Kommens und Gehens der Akteure, eine weiß Gott hyperkomplizierten Angelegenheit in Grass’ ausgeklügeltem Tohuwabohu, nicht allein das Nachdenken, sondern auch die Bewunderung des Publikums verdient hat. Im Bild von Sigurd Zehner, das in 13 Szenen Schulbank, zahnärztliche Praxis, Lehrerwohnung, Biertheke und jeweilige Straßenauffahrt mit Fahrrädern vereint, kämpfen Friedrich Grossart (Studienrat Starusch), Christa Schwertfeger (Studienrätin Seifert), Jürgen Sidow (Zahnarzt), Peter Holliger (Schüler Scherbaum) und Margitta Heyen (Schülerin Le- wand) zweieinviertel Stunden lang aufopferungsvoll gegen den aphoristisch gehaltenen, auf Plakatwirkungen ausgerichteten Text. Die Tatsache, daß auf der Bühne dauernd Bewegung herrscht, regt auch jenen Teil des Publikums zu Beifall an, der die freie Welt in ihrer Evolution für gar nicht so schlecht hält, wie es die Mao- und Che-Geisteskinder tun.

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