6888291-1979_36_12.jpg
Digital In Arbeit

Anselm in Canterbury

Werbung
Werbung
Werbung

Die dritte Anselm-Tagung, die kürzlich in Canterbury aus Anlaß des 900. Gedenktages an Anselms erste Ankunft in England stattfand, hat wieder den engen Zusammenhang von intellektuellem Diskurs und spiritueller Grundhaltung deutlich gemacht. Die Anselm-Tagungen führen Theologen, Philosophen, Historiker und Philologen zu ganz speziellen Themen zusammen. Aber die Einstellung, in der die Themen behandelt werden, ist nicht vom kulturzerstörenden Spezialistentum unserer Tage bestimmt.

Klar begrenzte Fragestellung ist nicht notwendig an ein Desinteresse für die großen Zusammenhänge gekoppelt. Gerade im Hinblick auf Anselm, einen der Exponenten der ein ganzes Jahrtausend bestimmenden christlichen Theologie, verbietet sich dieses von selbst.

Nachdem die Einheit des nach Erkenntnis drängenden Glaubensvollzugs in Augustins und Anselms Sinn zerbrochen ist, stehen wir mit leeren

Händen da und finden nicht das einende Wort. Zerbrochen ist diese Einheit durch die Isolierung der Ratio, der Methode aus dem Kontext der Glaubensgemeinschaft und der Lebenswelt. Was für Anselm noch kein Problem war, ist unser eminentes Problem: die Heilung dieses Bruches, die Annahme des Geschenkes dieser Einheit. Außer Zweifel steht, daß der Bruch nicht durch Raison- nement geheilt werden kann. Insofern ist der intellektuelle Diskurs nicht zuständig. Was wir können, ist die Rekonstruktion der Isolierung der Ratio.

Die Anselm-Forschung setzt an dem Beginn dieser Isolierung an. Sie fragt: Welches waren die Gründe dafür, daß sich die Ratio, der formallogisch-methodisch fortschreitende Verstand, aus den Glaubensvoraussetzungen isolieren konnte?

Eine Antwort setzt eine detaillierte Kenntnis der Kultur des 11. und 12. Jahrhunderts voraus. In dieser Zeit wurden in jeder Hinsicht die Voraussetzungen unseres Jahrtausends gestaltet: rationale Theologie, Rechtfertigung von intellektuellen Positionen durch Diskurs, Studium des römischen Rechts, rationale Organisation der Stadt. Wie konnte dies geschehen, ohne als Sündenfall, als Streben nach dem verbotenen Baum der Erkenntnis gedeutet werden zu müssen?

Der frühere Erzbischof von Canterbury, Dr. Michael Ramsay, hob in seiner Ansprache Anselms Wirken für die Einheit von Theologie und Gebet hervor. Der berühmte Gedankengang im Proslogion - Gott als das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann - ist eingeleitet von der Aufforderung zur Stille: Schließ die Türe, laß alle Sorgen!

Wie fremd klingt diese Aufforderung in einer Zeit, in der allen Ernstes geglaubt wird, man könne über Wahrheit abstimmen und deren intellektuelle Diskurse durch alle möglichen Gremien organisiert werden.

Charles Hartshorne (Austin, Texas) formulierte, daß Anselms Denken für uns Heutige nicht genügend Gottes grundsätzliche Überlegenheit über unser Denken deutlich macht. Wir stellen uns die Frage: Wie kann Gott gedacht werden, ohne zugleich zu gering gedacht zu werden?

Im Unterschied zu den üblichen Deutungen von Anselms Gottesbegriff, denen zufolge Gottes Existenz aus seinem Wesen „abgeleitet” wird, ist es erforderlich, Existenz nicht im Sinne von Vorhandensein, sondern im Sinne von aktuell bestimmender Wirklichkeit aufzufassen. Führen wir aber auf diese Weise einen Gegenwartsbezug in den Gottesbegriff ein, müssen wir von dem alten aristotelischen Grundsatz, der dem Denken im Mittelalter zugrunde liegt, abgehen: Möglich zu sein und zu sein ist dasselbe, soweit von ewigen Dingen die Rede ist.

Es bleibt zu fragen, ob ein solches Hinausgehen über Aristoteles nicht bereits das europäische Denken sprengt und einen Übergang markiert - eben den Übergang, der unsere Zeit in so großem Maße kennzeichnet.

Anselms Werk wurde auf der Tagung in vielen Aspekten beleuchtet. Zweifellos bildete der analytisch- sprachphilosophische Zugang einen Hauptaspekt. Besonderes Gewicht wurde aber vor allem auf den lokal- geschichtlichen Hintergrund von Anselms Wirken in Canterbury selbst gelegt.

Canterbury Cathedral - eines der geschichtsschwersten christlichen architektonischen Zeugnisse - war der Ort eines eindrucksvollen ökumenischen Gottesdienstes. Man erinnerte sich nicht nur an Anselm, sondern auch an Thomas Beckett und die stolze Reihe der Erzbischöfe von Canterbury, die nicht selten exemplarisch für das kulturelle Leben ihrer Zeit stehen.

Papst Johannes Paul II. zeichnete die Tagung durch ein Telegramm aus, in dem er die ökumenische Dimension der Anselmstudien hervorhob. Diese Dimension zu betonen, war eine der Hauptbestrebungen, die auch in Zukunft Anselm-Tagungen bestimmen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung