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Stalins Sekretär erzählt

Georg Bailey hat in der New York Times zwar erheblich übertrieben, als er das Buch „Ich war Stalins Sekretär“ von Boris Baschanow mit Speers „Erinnerungen“ verglich, aber immerhin ist es ein Werk, das die Geschichte der Sowjetunion in den Schlüsseljahren, in denen Stalin der totalen Macht zustrebte, um einige Mosaiksteinchen bereichert. Es macht noch deutlicher, was schon deutlich war, nämlich, daß vor allem die katastrophale Verbindung von Parteidisziplin und rücksichtslosem Machtkampf aller gegen alle (wobei jene siegten, die auf dem Klavier des Apparats am besten spielten) dem Stalinismus den Boden bereitete. Baschanow, der zwischen 1923 und 1925 einer von vier Sekretären Stalins war und dessen Buch die Erweiterung und Ergänzung eines schon um 1930 erschienenen Erinnerungsbüchleins darstellt, ist weniger ein Er- als ein Aufzähler. Von der Atmosphäre, die in der sowjetischen Führungsspitze damals herrschte, wird leider recht wenig lebendig - ergreifend immerhin, zum Beispiel, das Detail vom resignierenden, an seinem Schreibtisch in die Lektüre französischer Romane flüchtenden Trotzki. (Ullstein-Verlag, Frankfurt-Berlin- Wien 1977, 270 Seiten, 48 Photos, öS 322,60)

Pädagogik als Novum

Erziehung als bewußtes, planmäßiges Einwirken Erwachsener auf Kinder erscheint einem wohl immer größeren Teil der Menschheit als eine so zeitlose SebstVerständlichkeit, daß die Behauptung, Erziehung sei eine historisch sehr junge „Erfindung“ und noch vor wenigen Jahrhunderten habe es derlei nicht gegeben, auf den ersten Blick absurd, ja schockierend wirkt. Im ausführlichen Vorwort zu ihrem Buch „Schwarze Pädagogik - Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung“ geht Katharina Rutschky mit marxistischen Pädagogik-Historikern nicht weniger hart ins Gericht als mit Erziehungstheoretikern wie, in einer der ausführlichen Anmerkungen, Illich, Braunmühl oder Mead. Ihre Argumentation geht weit über Ariės („Geschichte der Kindheit“, Hanser-Verlag 1975) hinaus. Pädagogik erscheint hier nicht nur als historisches Novum, sondern auch als ein unter historisch fixierbaren Bedingungen entstandenes Werkzeug der Selbstbehauptung (und zwar des Bürgertums), das, sozusagen wie das Rad, das Eisenschmelzen oder die Feuerwaffe, schnell Allgemeingut der ganzen Art Homo sapiens wurde. Die Argumentation von Frau Rutschky ist, hat man sich erst in den Facbjargon eingelesen, klar und zwingend, zugrunde liegt ihr eine Verbindung der analytischen Instrumentarien von kritischer Theorie und Psychoanalyse. Wichtige Hinweise kamen von N. Elias, etwa, mit den Worten der Autorin, daß „psychische Zivilisationsschübe“ dort zu beobachten sind, wo es zu einer Konfrontation von sozial Höherstehenden (also mit Besitz-, Macht- und Prestigechancen bevorzugt ausgestatteten Personen) mit solchen kommt, die von ihnen abhängig sind, obwohl sie ihrer Herkunft und ihrem Anspruch nach zur selben Schicht gehören. Anders gesagt: Der gesellschaftlich Mächtigere steht unter einem geringeren Zwang zur fortschreitenden Zivilisierung als der, der um seine Position kämpft“ Die „restlichen“ 618 Seiten sind eine Fundgrube von aufschlußreichen Dokumenten aus der Geschichte der Pädagogik - und eine Dokumentation des hohen, in neurotischen Leidensgeschichten und kollektiven Äquivalenten individueller Neurose bezahlten Preises für die Innovation namens Erziehung und den Aufstieg des Bürgertums. Ein Buch von größter Wichtigkeit! (Ullstein-Verlag, Berlin - Wien, Ullsteinbuch 3318, 692 Seiten, Abbildungen, öS 191,-).

Der nichtjüdische Jude

Das Buch „Der nichtjüdische Jude“ („The non-Jewish Jew and other es- says“) von Isaac Deutscher gibt es nun auch in deutscher Sprache, unter dem Titel „Die ungelöste Judenfrage - Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus“. Es erschien neun Jahre nach der Originalausgabe im linken Rotbuch-Verlag, und es ist beschä mend, daß sich kein anderer dafür fand. Denn Isaac Deutscher, der Biograph Stalins und Trotzkis, war einerseits Gegner des Zionismus und jeglichen jüdischen Nationalgefühls, aber seine Aufsätze dokumentieren, anderseits, ein lebenslanges Ringen um eine Position als Marxist und „nichtjüdischer Jude“ (der geänderte Titel ist eine Dummheit), als Internationalist und Jude, und kritisch, analytisch gelesen, machen gerade die Windungen und Inkonsequenzen Deutschers beim Versuch, seine antizionistische Position ideologisch zu untermauern, deutlich sichtbar, daß ebendiese (zumindest: auch) tief in Deutschers jüdischer Vergangenheit wurzelt, und zwar in einer sehr ambivalenten Tendenz, sich einerseits vom eigenen Judentum zu emanzipieren und anderseits, in der linken, internationalistischen Position jüdische Glaubensinhalte zu bewahren. Um dies deutlich erkennbar zu machen, hätte es freilich statt des vulgärmarxistischen Nachwortes eines Hinweises etwa auf die seltsame Übereinstimmung zwischen jüdisch-orthodoxem und marxistischem Antizionismus bedurft, wie eben überhaupt einer Diskussion von Deutschers Standpunkten. In der vorliegenden Ausgabe wurde sogar der Aufsatz von Tamara Deutscher über Isaac Deutschers Kindheit fortgelassen. Dafür, immerhin, ein Zitat im Nachwort aus Isaac Deutschers Aufsatz „Germany and Marxism“ in dem Buch „Marxism in our time“ - gespenstisch klingende Sätze, Sätze über den Vater: „,Deutsch*, sagte er dann gewöhnlich, ,ist die Weltsprache. Warum solltest du dein Talent in einer Provinzsprache vergraben? Du mußt dich nur mal jenseits von Auschwitz aufhalten* - Auschwitz lag ganz in unserer Nähe, an der Grenze - ,du mußt dich nur mal jenseits von Auschwitz aufhalten ‘… Die tragische Wahrheit ist, daß mein Vater niemals über Auschwitz hinausgekommen ist. Im Zweiten Weltkrieg verschwand er in Auschwitz. (Rotbuch-Verlag, Berlin, 142 Seiten, öS 61,60)

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