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Die Lowenkinder

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Ein „neuer Libanon“ ist das Ziel des sechsten libanesischen Staatspräsidenten Elias Sarkis. Dieses Ziel ist jedoch so nebulos, daß sich sowohl der Armeleutesohn und als Nationalbankpräsident von Staats wegen zum Finanzgenie und Großkapitalisten gewordene Präsident, als auch die „rechten“ Christen und die „linken“ Moslems dieses bequemen Schlagwortes bedienen. Ob dieser „neue Libanon“ jemals entstehen wird, oder ob es bei der Vierteilung des Landes in eine syrische und eine israelische Einflußsphäre einerseits und in christliche und muselmanische Enklaven anderseits bleibt, ob sich die heillos untereinander zerstrittenen Bürgerkriegsparteien im Interesse der Einheit des Staates wieder zu einem gemeinsamen wirtschaftlichen Aufbauwerk zusammenfinden, oder ob sie ihr blutiges Ringen bis zur völligen Selbstzerfleischung fortsetzen -— alle diese Fragen verblassen vor einem auf den Libanon zukommenden, unlösbar scheinenden sozialen Problem. Gemeint ist die Zukunft der Kinder-Soldaten des Bürgerkrieges. Wie soll man sie jemals aus dem ' Rausch der Scheinfreiheit hinter einer geladenen „Kalaschnikow“ wieder herausführen? Wer will die bei ihnen angerichteten, wahrscheinlich unheilbaren psychischen Schäden beseitigen? Wie will man sie jemals wieder an elterliche und staatliche Autorität gewöhnen? Wer will sich anheischig machen, ihnen das beizubringen, was sie in der versäumten Schulzeit nicht lernen konnten? Wie will man sie, die sich auf eigene Faust durch das Bürgerkriegsgeschehen bringen mußten, in einen normalen Arbeitsprozeß eingliedern?

Zwölf bis achtzehn Jahre alt sind diese Kinder-Soldaten des Bürgerkrieges. Zur Ehre der Christen muß man sagen, daß deren Milizen sich solcher Halbwüchsiger nie bedienten. Den Anfang dazu machten, wie bei so vielen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Palästina-Gueril-leros. Seit dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 bildeten sie die Kinder in den Flüchtlingslagern, zunächst Jordaniens, später Syriens und des Libanons, vom schulpflichtigen Alter an und manchmal auch schon früher zu aktiven Kämpfern mit der Waffe in der Hand aus. Die Guerillagruppe „El-Fatach“ unter Jassir Arafat nannte ihre Kinderarmee „El-Asch-bal“ — ,;Die Jungen Löwen“. Im „Schwarzen September“ von 1970 ließen die Löwenkinder bei Kämpfen gegen die regulären jordanischen Streitkräfte zum erstenmal sinnlos und zu Hunderten ihr Leben.

Auch die Guerillaüberfälle gegen Israel, von libanesischem Gebiet aus, wurden in der Zeit zwischen dem Sechstagefeldzug und dem Ramadankrieg vorwiegend von solchen jungen „Kriegern“ bestritten. Ihre (volljährigen) Anführer saßen unterdessen gut geschützt in den rückwärtigen Basen.

Im libanesischen Bürgerkrieg kam es dann zu einem makabren Schauspiel. Je mehr sie in die Defensive gedrängt wurden, um so häufiger führten nicht mehr nur die Palä-stina-Freischärler, sondern auch die libanesischen Linksmilizen unter dem millionenschweren kommunistischen Drusenemir Kemal Dschum-blat die meistens nur oberflächlich ausgebildeten und nicht selten auch nur unzulänglich bewaffnete Kinder-Soldaten an die „Front“. Die disziplinierten, hervorragend geschulten und ausgezeichnet bewaffneten christlichen Elitesoldaten führten plötzlich, ohne es zu wollen, Krieg gegen f ana-tisierte Kinder. Diese ihrerseits waren die grausamsten Bürgerkriegsteilnehmer. Bedenkenlos töteten sie alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Kinder liefen blindwütig dem eigenen Tod in die Arme, weil man ihnen verschwiegen hatte, was der Tod ist.

Außer den psychosomatisch ohnehin äußerst gefährdeten Flüchtlingskindern aus den Palästinenserlagern gingen aus Protest gegen die Welt der Erwachsenen auch Lehrlinge, Oberschüler, junge Bankangestellte zu den Milizionären. Auf ihr Konto gehen bezeichnenderweise viele Vergewaltigungen und Verstümmelungen der wehrlosen Opfer. Die Krankenhäuser sind anderseits überfüllt mit Kindern, die durch Granatwerferbeschuß, verirrte Artilleriegeschosse oder durch Scharfschützen gräßlich verwundet wurden. Diese Generation ist für immer gezeichnet als eine Generation von seelischen und körperlichen Krüppeln. Wie soll sie jemals erwachsen werden?

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