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Die Rückkehr des Übermenschen

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Während ich diese Zeilen nieder sehr eibe, halten deutsche Terroristen vermutlich im Raum Frankfurt-Mainz ihren Landsmann Hanns Martin Schleyer gefangen; bis diese Zeilen gedruckt werden, ist Schleyer vielleicht bereits tot, vielleicht bereits frei; die Frage jedoch nach den Motiven von Opfern und Tätern bleibt bestehen, wird zum Problem der Massenpsychologie, entpuppt sich als eines der Kardinalprobleme unserer Zeit.

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Während ich diese Zeilen nieder sehr eibe, halten deutsche Terroristen vermutlich im Raum Frankfurt-Mainz ihren Landsmann Hanns Martin Schleyer gefangen; bis diese Zeilen gedruckt werden, ist Schleyer vielleicht bereits tot, vielleicht bereits frei; die Frage jedoch nach den Motiven von Opfern und Tätern bleibt bestehen, wird zum Problem der Massenpsychologie, entpuppt sich als eines der Kardinalprobleme unserer Zeit.

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Die Motive des Opfers? Sie sind, aus der Sicht von Hanns Martin Schleyer, gewiß redlich, ohne Zweifel demokratisch: der von seinen Standesgenossen frei gewählte Vertreter einer Gruppe hatte die Ansichten seiner Freunde in der Öffentlichkeit ausgesprochen, hatte für die Interessen seines Standes gekämpft. Aus der Sicht der Terroristen ist aber Hanns Martin Schleyer kein konkreter Mensch, sondern ein Symbol, seine Ansichten sind nicht einfach falsch oder richtig, sondern sie besitzen in der Dramaturgie der Weltgeschichte ihren ganz bestimmen Platz, seine Interessen haben nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine sozusagen metaphysisch-moralische Komponente.

Für die Terroristen ist Hanns Martin Schleyer ein Symbol der Unterdrük- kung, seine Ansichten müssen nach dem objektiven Willen der historischen Notwendigkeit aus der Welt ge-

schafft und seine Interessen bekämpft werden, denn sie verkörpern nichts anderes als das Prinzip des Bösen. Die Terroristen sehen keinen Menschen: sie liquidieren eine Idee.

Das heißt, ihr Verhältnis zur Wirklichkeit ist im höchsten Maße gestört; sie bewegen sich nicht in der tatsächlichen Welt, sondern in einer Welt von Allegorien und Symbolen; sie haben die letzte Konsequenz aus ihrer Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft gezogen, sind aus dieser Welt ausgewandert in die Welt der Einbildungen, der Fiktionen, des Wahnsinns, in die Welt des Mordens aus abstrakten Überlegungen und ideologischen Gründen; und sie fühlen sich in dieser Wahnsinns-Welt endlich frei. Von den Zwängen befreit, ja, von den Zwängen jeder Wirklichkeit, jeder materiellen Existenz.

In ihrer Welt des Wahnsinns herrschen selbstverständlich ihre eigenen fiktiven Gesetze. Diese Gesetze müssen eine Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht bestehen und sich unter den Gegebenheiten des sozialen Zu-

sammenlebens nicht bewähren. Diese Gesetze sind Gesetze der subjektiven Willkür, die sich selbst als objektive historische Notwendigkeit interpretiert.

Der Typ, der so denkt, der-während ich diese Zeilen schreibe - vermutlich im Raum Frankfurt-Mainz den Menschen und das Symbol Hanns Martin Schleyer seit 14 Tagen gefangenhält, dieser Typ ist uns bestens bekannt. Er wurde im Jahre 1867 beschrieben, von Fjodor Dostojewski, beschrieben und analysiert im Roman „Schuld und Sühne“: ja, es ist der Student Rodion Raskolnikow, der uns nun aus der so rechtschaffenen und zugleich doch so düsteren Szenerie der deutschen Geschichte entgegentritt - Rodion Raskolnikow, der die alte Pfandleiherin

(wie er glaubt) nicht nur erschlagen und berauben darf, um zu Geld zu gelangen, und auch nicht nur aus Ekel vor der bösen und kleinlichen Atmosphäre, m der die alte Frau ihr Leben verbringt, nein, Rodion Raskolnikow hat das Recht, was sage ich?! er hat die Pflicht, die alte Frau zu erschlagen. Er fühlt sich als Werkzeug der Gerechtigkeit. Denn er ermordet ja nicht einen Menschen, sondern ein Symbol, er vollstreckt ein Todesurteil der Geschichte, er bricht (wie er glaubt) die Gewalt des Bösen in dieser Welt.

Raskolnikow glaubt also, einen rituellen Mord zu vollb ringen, eine symbolische Handlung, wie sie uns aus dem Brauchtum der archaischen Kulturen bekannt ist: er betreibt Magie.

Diese Magie richtet sich nicht nur gegen eine konkrete Person, auch nicht gegen eine gesellschaftliche Einrichtung oder Klasse, sondern gegen die industrielle Gesellschaft an sich (die man, wenn man sie mancherorts beschimpfen will, fälschlicherweise „kapitalistisch“ nennt: Raskolnikow wendet sich nicht gegen das Kapital, sondern gegen die Verhältnisse der industrialisierten und urbanen Strukturen). Diese Magie will den „Kapitalismus“ durch den rituellen Mord „wegzaubern“, weil er unter dem Begriff „Kapitalismus“ die Lebensbedingungen der hochentwickelten Industriegesellschaft subsumiert: das Unübersehbare der gesellschaftlichen Zusammenhänge, die sogenannte Entfremdung vom Produkt, die massenhafte Verteilung von uniformierten

Massenwaren, und dazu - in den Demokratien - die Mündigkeit des einzelnen, die selbstverständlich mit Einsamkeit verbunden ist. Raskolnikow kann den Sprung in die moderne Gesellschaft nicht vollziehen. Er sehnt sich nach Ländlichkeit und Stille und Überschaubarkeit, und vor allem sehnt er sich nach der Möglichkeit, die eigenen Emotionen frei - also rücksichtslos und asozial - auszuleben.

Das Programm ist bekannt, ist das Lebensgefühl des von Friedrich Nietzsche konzipierten Übermenschen, lebt bei Andrė Gide weiter und bei Jean Genet, erhält im Existenzialismus intellektuell anspruchsvolle Form und erlebt zwar in deformierter Art und Weise, aber immerhin ihren größten theoretischen Triumph im Anarchis mus von Bakunin und ihren größten praktischen Sieg in der Ideologie des Nationalsozialismus. Die entsprechenden Zusammenhänge hat der kommunistische Philosoph Georg Lukäcs seinerzeit, wenn auch einseitig, aufgezeichnet.

Was aber vollzieht der Existenzialismus? Er demokratisiert und säkularisiert das früher einmal mystisch begründete Monopol des Herrschers, menschliches Leben auszulöschen. Er nimmt die Vorrechte des Souveräns und des Adels nun nicht mehr nur für das Bürgertum, sondern für jedermann in Anspruch. Das heißt: er macht das Recht zum Morden zur Frage der persönlichen Entscheidung jedes Individuums, ob es sich nun um einen Mord aus praktischen Gründen handelt wie im Fall des Mordes an ungeborenen Kindern oder um einen Mord aus ideologisch verbrämten und eigentlich magischen Gründen. Der Drohung eines solchen magisch-symbolischen Mordes ist im Augenblick, in dem ich diese Zeilen schreibe, der konkrete Mensch Hanns Martin Schleyer ausgesetzt.

Dies aber ist der Punkt, an dem sich die Geister scheiden.

Denn angesichts des fürwahr klassischen Beispiels des Rodion Raskolnikow gibt es nur zwei Möglichkeiten, menschlich und also auch politisch Partei zu ergreifen. Entweder sind wir für ein Gesellschaftsbewußtsein, das die Möglichkeit einer gemeinsamen Entwicklung postuliert. In diesem Fall müssen wir auch die Industrialisierung mit allen ihren Widrigkeiten meistern, in diesem Fall müssen wir auch eine vernünftige Demokratisierung vorantreiben, selbst, wenn sie mit einer gewissen Vermassung selbstverständlich verbunden ist, in diesem Fall vertreten wir Prinzipien, die aus dem Gedankengut der christlichen Moraltheologie und der französischen Aufklärung letztlich zusammenwachsen. Oder wir glauben an das unbegrenzte Recht des einzelnen, sich auszuleben, seine Einbildungen mit der Wirklichkeit zu verwechseln, gegen die moderne Industriegesellschaft, gegen die Methoden der demokratischen Meinungsbildung, gegen die progressive Gesellschaft mit Gewalt vorzugehen.

Die Terroristen, die in diesem Augenblick Hanns Martin Schleyer vermutlich gefangenhalten, haben sich für den zweiten Standpunkt entschieden. Sie sind gegen die progressive Gesellschaft, gegen demokratische Methoden, gegen die Vernunft, sie verwechseln ihren Wahnsinn mit der Wirklichkeit und nehmen sich das Recht, sich auszuleben: das Recht auf den Ritualmord inbegriffen. Somit haben die Terroristen - um in der Terminologie unserer Zeit zu sprechen - das ideologische Erbe des Nationalsozialismus angetreten. Ihre Sympathisanten spielen dabei die gleiche Rolle, die vor fast fünfzig Jahren die stillen Wegbereiter Hitlers gespielt haben: sie unterstützen den Ausbruch der Berserkerwut gegen eine wenn auch nicht perfekte, so doch immerhin gut funktionierende Demokratie.

Das vorübergehende Überhandnehmen von Intoleranz in manchen Gebieten unseres Kontinents hat offenbar historische Gründe. Ihre Analyse führte an dieser Stelle zu weit. Historisch vorgeformt und verhängnisvoll ist aber die Diktatui-der Einbildungen über die vielfarbige Realität und die Unfähigkeit, zwischen Entweder und Oder einen dritten Weg zu finden, zum Beispiel: den Weg des lächelnden Glaubens oder der lächelnden Skepsis.

Das aufblitzende Licht der Handfeuerwaffen in Köln, der Mord an vier Begleitern Hanns Martin Schleyers, hat auf die historische Szenerie ein grelles Schlaglicht geworfen. In diesem Licht ist Rodion Raskolnikow wieder einmal sichtbar geworden, der leidende Mörder, der nach Taten fiebernde Übermensch, der arme Wahnsinnige, der sich einbildet, Vorkämpfer des Guten zu sein. Der reaktionäre Mörder hat die Bühne betreten und damit hat auch die Stunde der Demokraten geschlagen. Sie sind aufgerufen zur Tat. Die Freiheit ist in Gefahr.

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