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Die Zukunft im Nebel

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„Prognosen sind schwierig - zumal, wenn sie die Zukunft betreffen". Dieses Bonmot unter Wirtschaftswissenschaftlern erinnert daran, daß Vorhersagen schwieriger und weniger glaubwürdig geworden ist.

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„Prognosen sind schwierig - zumal, wenn sie die Zukunft betreffen". Dieses Bonmot unter Wirtschaftswissenschaftlern erinnert daran, daß Vorhersagen schwieriger und weniger glaubwürdig geworden ist.

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Wissenschaftstheoretisch sind Prognosen der Zukunft im Grunde unmöglich. Der Mensch kann bestenfalls die Vergangenheit erklären. Er kann Messungen der Vergangenheit sammeln und aufgrund solcher Messungen Zusammenhänge von Größen mittels wissenschaftlicher Hypothesen (Annahmen) verstehbar machen — vorausgesetzt er hat in der Vergangenheit im Grund unendliche Mühe aufgewendet.

Die Zukunft kann der Mensch hingegen nur dann erklären, wenn die zusätzliche, durch nichts begründbare Vermutung gilt, die Zukunft werde in irgendeinem Sinne eine Wiederholung der Vergangenheit sein...

Betrachten wir eine Alltagsprognose, um zu sehen, was wir aus ihr lernen können. Wir prognostizieren alle, daß an jedem nächsten Morgen (an einem Ort zwischen den Polarkreisen) die Sonne wieder aufgehen und es hell werden wir. Wir tun dies erstens und vor allem aufgrund einer „Extrapolation", einer Fortsetzung der Erfahrung der Vergangenheit:... Da dies bisher „immer" passiert ist, wird es auch in Zukunft geschehen, so schließen wir.

Wir brauchen für unsere Prognose somit überhaupt keine wissenschaftliche Theorie, die zeigt, warum die Sonne aufgeht. Die Information reicht aus, daß sie es tut, genauer: daß sie es bislang tat. Wir prognostizieren den Sonnenaufgang somit allein aus vergangenen Sonnenaufgängen.

Solche Prognoseverfahren sind in den Wirtschaftswissenschaften in den letzten zehn, fünfzehn Jahren viel beliebter und häufiger geworden. Mehr und mehr „erklären" wir ökonomische Größen nur mehr aus ihrer eigenen zeitlichen Entwicklung in der Vergangenheit ohne Zugrundelegung weiterer erklärender Variablen.

Als beste Prognose etwa des Dollarkurses morgen erweist sich der Dollarkurs von heute. Das ist das einfachste mögliche univaria-te Zeitreihenmodell. Der zukünftige Dollarkurs wird nur aus den Dollarkursen der Vergangenheit und Gegenwart und nichts anderem erklärt. Das könnte freilich auch in viel komplizierterer Weise erfolgen: Der Dollarkurs morgen könnte von einem komplizierten Durchschnitt vieler vergangener Tageskurse abhängen.

Wissenschaftliche Erklärungsansätze für Prognosezwecke sind ambitiöser. Sie wollen nicht, wie das univariate Zeitreihenmodell, eine Größe A allein aus der Geschichte ihrer selbst erklären; sie wollen A zumindest mittels einer weiteren Größe B erklären, auf diese zurückführen. Ein klassisches wirtschaftswissenschaftliches Beispiel ist die Konsumfunktion: Der gesamtwirtschaftliche Konsum wird durch ein geeignet gewähltes gesamtwirtschaftliches Einkommen, also eine andere Variable als dem Konsum, erklärt.

Das Beispiel ist klassisch, leider aber auch fatal. Inzwischen ist nämlich für die USA gezeigt worden, daß der univariate Zeitansatz den Konsum besser erklärt als die theoretisch anspruchsvollere Konsumfunktion: Wie beim Dollarkurs ist der Konsum des nächsten Quartals einfach der Konsum des Vorquartals zuzüglich eines (unprognostizierbaren) Zufallgliedes und hier noch einer gleichbleibenden Steigerungsrate.

Die primitive mechanische Fortschreibung erweist sich besser als eine wissenschaftliche Theorie, die dreißig Jahre der Eckstein makroökonomischen Denkens war!

Aus dem Untersuchungszweck heraus ist man jedoch gezwungen, zu solchen Prognoseansäzten zu greifen, die vielleicht nur als Prognoseansätze gar nicht die besten sind. Was würde es zum Beispiel dem Sozialpolitiker helfen, würde man ihm sagen, die Arbeitslosigkeit von heute läßt sich am besten durch die Arbeitslosigkeit von gestern zuzüglich einer Zufallsstörung erklären?

Ein solcher Prognoseansatz impliziert, daß er in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit machtlos wäre: Wie ein unaufhaltbarer Zug, so sagt dieses Modell, fährt die Arbeitslosigkeit mit eigener Kraft weiter. Doch der Sozialpolitiker will ja die Arbeitslosigkeit beeinflussen!

Er braucht daher einen Prognoseansatz, der die Höhe der Arbeitslosigkeit verknüpft mit solchen Variablen als Erklärungen, die er beeinflussen kann; mit sogenannten Instrumentenvariablen also. Er ist somit nicht an der besten Prognose der Arbeitslosigkeit als solcher interessiert, sondern an der besten Prognose seiner Wirkung auf die Arbeitslosigkeit_

Eine weitere Fehlerquelle infolge beschränkter Auswertung der Erfahrungen der Vergangenheit zeigt der erste Erdölschock 1973/ 74. Damals stiegen bekanntlich die Erdölpreise auf das Vierfache oder um 300 Prozent. Niemand konnte prognostizieren, wie sich eine solche Preissteigerung auf den Energieverbrauch einerseits, auf Sozialprodukt und Beschäftigung andererseits auswirken werde.

Obwohl die Reaktion auf eine 300prozentige ölpreissteigerung vor 1973/74 gleich gewesen wäre wie danach, trat eine solche ölpreissteigerung tatsächlich nicht auf, sodaß man ihren Effekt mangels vergangener Erfahrung nicht prognostizieren konnte. Was man kannte, waren z. B. fünfprozentige Preissteigerungen bei Erdöl und ihre Effekte.

Weil die beobachteten, bis zu fünfprozentigen Steigerungen nur sehr kleine Effekte haben,' weil die Energiepreise vor 1973/74 sich durch 20 Jahre hindurch nominell kaum veränderten und real langsam gefallen waren, hatte kaum jemand die Erdölpreise in sein Prognosemodell eingebaut. Daher wußte man 1973/74 nicht nur nicht, welche Auswirkungen eine 300prozentige Erdölpreissteigerung haben würde, man wußte nicht einmal den Effekt einer fünf- oder zehnprozentigen!

Ähnliches passiert regelmäßig: Immer dann, wenn der Prognosebedarf besonders groß ist, weil eine neuartige Veränderung auftritt, sind die Prognostiker nicht gerüstet.

Prognostiker wirtschaftlicher Umstände stehen nicht außerhalb ihres zu prognostizierenden Systems. Sie sind Teil desselben. Sie sind Gesellschaftstiere (um mit Aristoteles zu sprechen). Sie wissen, daß die Zukunft kaum durchschaubar ist.

In ihrem Versuch, in die Zukunft einzudringen, klammern sie sich aneinander, orientieren sich aneinander, stützen sich aufeinander ab. Ein solcher lemming-haf ter Herdentrieb wird — leider — auch gesellschaftlich belohnt. Wehe man macht eine stark von anderen Prognostikern abweichende Prognose und behält unrecht. Dann ist man für immer als „unseriös" gebrandmarkt.

Fast so schlimm ist es, eine abweichende Prognose zu fabrizieren und recht zu behalten. Neidisch wird man von den anderen als Glücksritter verunglimpft. Am besten man erstellt etwa dieselbe Prognose, wie alle anderen Prognostiker; und so entstehen die typischen kollektiven Fehler allgemeiner Prognoseübung.

Der Autor ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien, sein Beitrag ein Auszug aus „Wirtschaftsanalysen" der Ersten 3/84.

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