Der gerechte Frieden ist nicht gewaltblind

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Paul-Henri Campbell kritisierte in der Vorwoche an dieser Stelle das „arglose Kumbaya“ christlicher Friedensappelle hinsichtlich Nahost – und forderte ein „wehrhaftes Christentum“. Eine Replik.

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Paul-Henri Campbell kritisierte in der Vorwoche an dieser Stelle das „arglose Kumbaya“ christlicher Friedensappelle hinsichtlich Nahost – und forderte ein „wehrhaftes Christentum“. Eine Replik.

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Scharf kritisiert der Schriftsteller und Theologe Paul-Henri Campbell in der FURCHE die christliche Friedensethik und insbesondere Papst Franziskus sowie mit ihm Organisationen wie Pax Christi oder die Caritas, weil sie aufgrund ihrer pazifistischen Grundhaltung unfähig wären, nach dem Terroranschlag der Hamas „die absolute Solidarität mit Menschen in Israel und jüdischen Menschen weltweit“ auszudrücken. Barmherzigkeit erzeuge „Komplizen von Gewalt“. Der Kommentar gipfelt im Aufruf zu einem „wehrhaften Christentum“.

Schon der Begriff „wehrhaft“ zwingt zu kritischen Rückfragen. Ist das Christentum des Moskauer Patriarchen Kyrill I., der Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine theologisch unterstützt und diesen zum „metaphysischen Krieg“ erklärt, schon wehrhaft genug? Oder waren es die Theologien der Vergangenheit, die zumindest indirekt auch zu den Gewaltkatastrophen der beiden Weltkriege beitrugen, weil sie unfähig waren, für eine nachhaltige Gewaltprävention zu sorgen? Zurecht warnt Campbell zwar vor einer „Normalisierung von Gewalt“, versteht aber nicht, dass gerade diese Einsicht eine Distanzierung von Krieg und Gewalt erforderlich macht, von der nur in berechtigten Ausnahmefällen abgegangen werden darf.

Der jüdische Philosoph Walter Benjamin gab in seinem Essay „Zur Kritik der Gewalt“ schon 1921 eine ethische Wegweisung. Er kritisierte zurecht eine naturrechtlich geprägte Tradition, die „Gewalt“ als ein „Naturprodukt“ ansah, „gleichsam ein Rohstoff, dessen Verwendung keiner Problematik unterliegt, es sei denn, dass man die Gewalt zu ungerechten Zwecken missbrauche“. Diese Naturalisierung der Gewalt legitimierte beispielsweise die Todesstrafe, den Terrorismus der Französischen Revolution und auch die faktische Handhabung der Lehre vom gerechten Krieg.

Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden

Spätestens die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat zu einem Umdenken in den christlichen Kirchen geführt, die anstelle des gerechten Krieges zunehmend für eine Theorie des gerechten Friedens eintraten. Krieg und Gewalt gelten damit nicht mehr länger als normal oder natürlich, sondern als begründungspflichtige Abweichungen vom immer anzustrebenden Ziel des Friedens. Wenn Campbell diese friedensethische Wende als „argloses Kumbaya“ bezeichnet, das die „christliche Nachkriegstheologie benebelt“ habe, so zeugt das von seiner Unkenntnis aktueller christlicher Friedensethik.

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