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Dornröschen ist noch müde

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Nach den freien, demokrati- sehen Wahlen, ja nach der Wahl der Demokratie scheinen in Ungarn alle politischen sowie juri- stischen Bedingungen gegeben, die den (Wieder)Aufbau eines europäi- schen Landes ermöglichen. Obwohl eine breite Schicht der Bevölke- rung die Lasten der monolithischen Vergangenheit trägt und wenig Vertrauen hat, repolitisierte die neue Freiheit doch die Hälfte der Nation und brachte sie zu einer erstaunlichen Aktivität im eigenen Interesse. Diese Ungarn wollen ihr Schicksal endlich in eigene Hände nehmen. Nach der Politik muß je- denfalls die Wirtschaft mit erster Hilfe behandelt werden. Aber auch die Moral und das Selbstbewußt- sein des Volkes haben schwere Schläge erlitten.

Die Gesellschaft blickt in diesem gewaltigen Umgestaltungsprozeß auf die Religion sowie auf die Groß- kirchen mit großer Erwartung, als goldene Reserve der Moral. Politi- ker aller Farben haben in letzter Zeit immerhin bekräftigt, daß die Kirchen zwar am meisten gelitten haben, trotzdem ihre Identität aber am besten behielten. Sie konnten und können eben in Ungarn auf eine Tradition von 900 Jahren zu- rückgreifen.

Darum bemühen sich auch Par- teien und andere gesellschaftliche Institutionen um eine Gutheißung ihrer Arbeit durch die Großkirchen und werben in allen Bereichen des Wiederaufbaus um die Kirchen als Partnerinnen. Dies ist bei der Be- gründung und Diskussion der neu- en Religionsgesetze sowie bei der Wahlwerbung deutlich geworden. Es ist kaum abzustreiten, daß das Ungarische Demokratische Forum (MDF) seinen Sieg und die Christ- demokraten ihre unerwartet große Stimmenzahl der Betonung der traditionellen christlichen Kultur Ungarns verdanken können.

Die Kirchen selbst sind vorsich- tig gewesen und bis jetzt auch ge- blieben. Einerseits wissen sie am besten, wie wenig sie imstande sind, den enormen Herausforderungen entsprechen zu können, anderer- seits sind sie - besonders die katho- lische Kirche - ziemlich gelähmt, weil sie ihre eigene Vergangenheit noch nicht gründlich aufgearbeitet haben. Die Bischofskonferenz hat wohl angedeutet, daß ihre Vergan- genheit auch nicht ganz frei von Kollaboration und Komplizen- schaft ist, man kann aber in der katholischen Kirche kaum damit rechnen, daß Amtsinhaber in Schlüsselpositionen daraus Konse- quenzen ziehen werden.

Weihbischof Värszegi - Rektor der theologischen Akademie von Budapest - hat vor einigen Mona- ten in Wien formuliert, daß die „ungarische Kirche nicht existiert", sie bestehe nur aus lauter Einzel- gängern und individuellen Initiati- ven.

Um das mit einem Bild zu ver- deutlichen: Sie steht wie ein wach- geküßtes Dornröschen bei ihrem Bett mit gelähmten Beinen und ist noch nicht imstande, mit ihrem neuen Partner „Csardas" zu tan- zen. Erst muß der Kreislauf in ih- rem Körper normal werden und dann kann man hoffen, daß sie - bewundert von den Augen der Nation - Ballkönigin wird.

Die Kirche soll das „christliche Ungarn" wieder sehr lebendig machen. Christliche Schulen sollen wieder eröffnet werden, man ruft die Orden, man verlangt christliche Zeitungen, Sendungen im Fernse- hen, eine stabile Theologie, eine starke Bischofskonferenz, also die ehemalige Position der Kirche im öffentlichen Leben. In einer Ge- sellschaft, in der nichts mehr sicher ist, in der selbst die tiefstmenschli- chen Grundwerte wackeln, scheint eine traditionelle Kirche ein Ret- tungsanker zu sein.

Die Entwicklung zeigt aber, daß die (Er)Lösung für die ungarische Gesellschaft eine Demokratie sein kann, eine pluralistische Gesell- schaft, ein freier Markt - eine Ge- sellschaft also, die die Lebenschan- cen der Menschen nicht durch Vor- rechte profaner oder gar religiöser Oligarchien begrenzt. In einer sol- chen Gesellschaft hat die Kirche die Toleranz und Vielfalt ihrer Tradition aufzu- zeigen, zu de- monstrieren, daß der Gott des Neuen Testa- ments ein men- schenfreundli- cher Gott ist, der sich auch mit ehemaligen Kommunisten verständigen kann, der auch kirchlichen Kol- laborateuren die Hand reicht und sich der „Bulä- nyisten" auch nicht schämt.

Die Kirche bedarf der Unter- stützung der westlichen Orts- kirchen. An den osteuropäischen Ländern wird sich entscheiden, ob die westlichen Kirchen nach den wahren Bedürf- nissen oder nach Eigeninteressen ihre „brüderliche Hilfe" leisten wollen. Man kann aber wohl hoffen, daß die Visionen der ka- tholischen Kir- che Europas auch in Ungarn eine Chance haben dürfen...

Andräs Mäte-T6th, Laientheologe, Promo- vandus bei Prof. Zuleh- ner in Wien, arbeitet bei der staatlichen Telefon- fürsorge in Szeged (Süd- ungarn), ist Mitglied der Bulanyi-Basisbewe- gung und Mitredakteur der ungarischen Pasto- ralzeitschrift „Kirchen- forum"

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