6841055-1975_44_06.jpg
Digital In Arbeit

„Euer Land braucht Euch!“

19451960198020002020

Zwei Reden haben in den letzten Tagen in Großbritannien Aufsehen erregt, Schlagzeilen gemacht und lebhafte Diskussionen ausgelöst. Wenn sich ein ganzes Volk irgendwie ausgesetzt, preisgegeben und ziellos vorkommt — was auf sehr viele Briten heute zweifellos zutrifft —, dann ist es notwendig, daß die Führer dieses Volkes energisch eingreifen, neue Hoffnungen und Ziele aufzei; gen, neue Horizonte erschließen. Genau das haben an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Schatzkanzler Denis Healey und Erz-bischof Coggan von Canterbury zu tun versucht, jeder natürlich auf seine Weise und in seinem Kompetenzbereich.

19451960198020002020

Zwei Reden haben in den letzten Tagen in Großbritannien Aufsehen erregt, Schlagzeilen gemacht und lebhafte Diskussionen ausgelöst. Wenn sich ein ganzes Volk irgendwie ausgesetzt, preisgegeben und ziellos vorkommt — was auf sehr viele Briten heute zweifellos zutrifft —, dann ist es notwendig, daß die Führer dieses Volkes energisch eingreifen, neue Hoffnungen und Ziele aufzei; gen, neue Horizonte erschließen. Genau das haben an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Schatzkanzler Denis Healey und Erz-bischof Coggan von Canterbury zu tun versucht, jeder natürlich auf seine Weise und in seinem Kompetenzbereich.

Werbung
Werbung
Werbung

Der britische Schatzkanzler hielt seine Rede auf dem traditionellen Bankett des Lordbürgermeisters der City von London vor einem Forum von Bankiers und Industriellen, und seine Worte waren vielleicht mehr eine Aufzählung grimmiger Tatsachen als ein Appell. Die Rede hätte ursprünglich Angaben darüber enthalten sollen, um wieviel höher das Defizit im britischen Staatshaushalt im laufenden Finanzjahr sein werde als die offiziellen Schätzungen im April 1975. Diese Richtigstellung nach oben dürfte aber so enorm sein, daß der Schatzkanzler offenbar der Meinung war, diesen Schlag den Bankettgästen sozusagen auf vollen Magen nicht zumuten zu können, bevor er nicht dem Parlament offiziell darüber Bericht erstattet hätte. Ohne die Angabe genauer Zahlen war Healeys Rede aber vielleicht nur noch “ominöser, wenn sie auch zum Teil den Erklärungen gewidmet war, warum staatliche Schätzungen manchmal falsch sein können.

„Auch viele andere Länder hatten ein wesentlich höheres Defizit, als vorgesehen“, sagte Healey, „und solche Budgetdefizite sind heute ein alltägliches internationales Phänomen.“ Und mit dem Ton eines Mannes, der eben einen internationalen Wettbewerb gewonnen hat, fuhr der Schatzkanzler fort: „Großbritannien ist jetzt nicht mehr allein in dieser Lage. Wenn wir Gleiches mit Gleichem vergleichen, dann stellt unser Defizit jetzt etwa denselben pro-portionellen Teil unseres Nationaleinkommens dar, wie das bei den anderen großen Industrienationen, den USA, der Bundesrepublik Deutschland und Italien, der Fall ist. Ich weiß, daß wir, wie auch diese Länder, dieses Defizit ganz wesentlich verringern müssen, sobald der wirtschaftliche Aufschwung eingesetzt hat... aber ich glaube, daß Großbritannien, ebenso wie andere Län^ der, im Augenblick berechtigt ist, ein größeres Defizit für akzeptabel zu halten.“

Und ohne seinen Zuhörern Zeit zum Nachdenken darüber zu lassen, ob geteiltes Leid wirklich halbes Leid sei, wandte sich Schatzkanzler Healey den fundamentalen britischen Wirtschaftsproblemen zu, die, wie er sagte, mindestens ein Jahrhundert alt seien: wie mangelhaftes Management, restriktive Praktiken, sinkende Rentabilität, mangelnder Arbeitswille und Stop-Go-Maßnah-men aufeinanderfolgender Regierungen. Die unmittelbare Zukunft: einer der härtesten Winter für Großbritannien seit dem letzten Weltkrieg, aber bei Genügsamkeit, Disziplin und harter Arbeit ein heller Schein am Ende eines langen, finsteren Tunnels.

Soweit also die harten, nur höchstens indirekt aufmunternden Worte des Mannes, der die finanzpolitische und wirtschaftliche Zukunft Großbritanniens zu lenken hat. Aber die menschliche Existenz besteht ja nicht nur aus materiellen Kategorien dieser Art, die spirituellen, ideellen Konzepte sind doch wohl am wichtigsten, oder? Wenigstens hört man solche Erklärungen am liebsten und auch am häufigsten dann, wenn es um Geld und Gut, um Haus und Hof nicht allzu gut bestellt ist. Und so hat Donald Coggan, der 101. Erzbi-schof von Canterbury, Primas von All-England und Oberhaupt der weltweiten anglikanischen Gemeinde, auf einer Pressekonferenz in seinem Londoner Lambeth-Palast eine Kampagne eingeleitet, durch die unter dem Titel „Materialismus bietet keine Lösungen“ dem britischen Volk eine neue, moralisch-geistige Zielsetzung vermittelt werden soll.

Coggans Anliegen ist ein zweifaches. Von der für ihn zweifelsfrei feststehenden Tatsache ausgehend, daß sich Großbritannien in aner materiellen und geistigen Krise erster Ordnung befinde, warnt der Erzbischof davor, daß in der großen nationalen Debatte darüber die spirituellen Wertmaßstäbe, für deren Aufrechterhaltung die Kirche verantwortlich ist, vergessen werden könnten. „Die Wahrheit ist“, sagte Dr. Coggan, „daß wir in Großbritannien keinen Halt, keinen Anker haben, daß wir uns treiben lassen. In zwei Weltkriegen hat uns ein gemeinsamer Feind zu einem vereinten Handeln zusammengebracht, und wir haben ihn besiegt. Jetzt aber steht ein anderer Feind vor den Toren, und viele von uns bleiben still und erwidern ihm nicht.“

Neben diesem Aufruf an das gesamte Volk wendet sich der Erzbischof von Canterbury in einem Hirtenbrief speziell an die christliche Bevölkerung, die darin zum „beständigen, ausdauernden und intelligenten Gebet“ für die ganze Nation aufgefordert wird, und zur Zusammenarbeit, um die Gesellschaft und ihr Verhalten „auf positive und hilfreiche Weise“ zu beeinflussen. Man höre immer, daß der einzelne machtlos sei, doch das sei falsch. „Jeder Mann und jede Frau zählt. Deine Stimme zählt. Du zählst. Jeder Mann und jede Frau wird gebraucht, um das Abtreiben ins Chaos aufzuhalten. Euer Land braucht Euch.“

Auf mutige Weise wendete sich Coggan gegen den Zynismus, der heute vielleicht die schlimmste und wohl auch am weitesten verbreitete Reaktion der Engländer auf die Probleme ihres Landes und auf jene ist, die diese Probleme zu lösen versuchen. Er warf die Fragen auf, ob der jetzige Standard des Familienlebens zufriedenstellend sei, ob wir alle genug arbeiteten, welche Form der Gesellschaft wir wollten und ob wir uns auf richtige Weise darum bemühten. Diese Fragen verdienen eine ernsthafte Untersuchung, und sie sind vielleicht gar nicht so wesensfremd dem Geiste, aus dem heraus Schatzkanzler Healey seine Rede über den wirtschaftlichen Zustand Großbritanniens gehalten hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung