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„Gesellschaftsänderung“

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Während die Volkspartei im Jahre 1945 zu Beginn ihrer politischen Arbeit über die in wenigen Strichen und markanten Thesen formulierten „Programmatischen Leitsätze“ verfügte, besaß der ÖAAB in dem von Karl Lugmayer geschaffenen „Wiener Programm“ bereits eine im Detail ausgearbeitete Grundlage seiner politischen Aktivität. Es soll nicht vergessen werden, daß der ÖAAB schon immer gesellschafts-ändernd mit dem Ziel einer humaneren Welt politisch tätig war.

Nichtsdestoweniger schlugen sich die Grundsätze des „Wiener Programms“ in allen wichtigen Gesetzen nieder, die nach 1945 — gemeinsam und einstimmig — von der Regierungskoalition beschlossen wurden, und das waren in den ersten Nachkriegsjahren praktisch alle für die Sozialordnung grundlegenden Gesetze, vom Arbeitslosenfürsorgege-setz angefangen über das Betriebsrätegesetz, das Landarbeitergesetz bis zum Jugendarbeitsgesetz usw. Davon abgesehen drückte, der ÖAAB der Gesetzgebung der späteren vierziger Jahre mit einigen bemerkenswerten legislativen Schöpfungen seinen Stempel auf. So wurde am 26. Juli 1946, zugleich mit dem ersten Verstaatlichungsgesetz, das Werksgenossenschaftsgesetz beschlossen, das geeignet gewesen wäre, die Sozialstruktur Österreichs grundlegend zu verändern. Es blieb Papier.

Ein besseres Schicksal war einer Sozialidee der ÖVP beziehungsweise eines prominenten ÖAAB-Politikers auf dem Gebiet des Wohnungsbaues beschieden: zugleich mit dem Wohnhauswiederaufbaugesetz wurde auf Initiative Franz Prinkes und der ÖVP das Wohnungseigentumsgesetz beschlossen (8. Juli 1948).

Zu den weiteren großen Marksteinen der sozialen Entwicklung in Österreich, deren Errichtung maßgeblich vom ÖAAB beeinflußt wurde, gehört der Familienlastenausgleich. Entwickelt aus dem Ernährungsbeihilfengesetz 1949 und dem Kinderbeihilfengesetz 1949, wurde mit Nationalratsbeschluß vom 15. Dezember 1954 ein umfassender Familienlastenausgleich geschaffen, der durch einen Zuschlag zur Lohnsummensteuer finanziert wird und für Kinder von Unselbständigen und Selbständigen Beihilfen gewährt, die nach der Kinderzahl gestaffelt sind. Der — auch wörtlich im Familien-lastenausgleichsgesetz formulierte — Zweck dieses Gesetzes ist es, den Familien für die Kosten der Kindererziehung Bargeldzuwendungen zu geben, ein Grundgedanke, der durch die jüngste sozialistische Politik auf diesem Gebiet kraß verfälscht wird.

Eine vom ÖAAB geforderte grundlegende Neuerung auf dem Gebiet der Sozialversicherung war die 1964 beschlossene und am 1. Jänner 1966 wirksam gewordene Pensionsdynamik. Die Errechnung einer alljährlichen, auf der durchschnittlichen Steigerung des Lohnniveaus beruhenden Erhöhung aller ASVG-Pensionen — und mittlerweile auch der Opfer- und sonstiger Renten — befreite die Alten davon, die Wertsicherung ihrer Pensionen und eine bescheidene Anteilnahme am Wirtschaftswachstum stets dem politischen Alltagsstreit ausgeliefert zu sehen.

Die Zeit der ÖVP-Alleinregierung brachte dem ÖAAB die Alleinverantwortung für das Sozialressort, die er in der Koalition stets der SPÖ überlassen mußte. Mit der Entsendung einer Frau an die Spitze dieses Ressorts setzte der ÖAAB auch in dieser Hinsicht eine fast revolutionäre Tat — Grete Rehor war die erste Frau, die in Österreich ein Ministeramt bekleidete. Bundeskanzler Dr. Kreisky konnte mittlerweile diesem Beispiel nur noch mit vermehrter Quantität an weiblichen Regierungsmitgliedern folgen.

Eine große Leistung der Amtszeit Minister Rehors war das Arbeits-marktförderungsgesetz, das den Arbeitnehmern die Anpassung an Strukturänderungen in der Wirtschaft erleichtern sollte und deutlich den Übergang von der im wesentlichen auf die Arbeitsvermittlung beschränkten Arbeitsmarktpolitik auf eine moderne Arbeitsmarktförderung markiert. In der ÖVP-Alleinregierung wurde von Frau Minister Rehor der Zweistufenplan zur Erhöhung der Witwenpension zum erstenmal ausgearbeitet und die erste Stufe im Parlament gesetzlich verankert.

Die Sozialpolitiker der ÖVP haben ferner in der wichtigen Frage der Ruhensbestimmungen eine Revision ihres Standpunktes vorgenommen, sie plädieren für eine totale Abschaffung der Ruhensbestimmungen im Normalfall der Alterspension, wobei jedoch eine einfache Fortsetzung der Berufstätigkeit am selben Arbeitsplatz ausgeschlossen bleiben soll.

In Gegenwart und Zukunft stehen neben den aktuellen Problemen, wie Neuregelung des Krankenhauswesens, vor allem die Fragen der Vermögensbildung und der Mitbestimmung im Vordergrund. Diese beiden Fragenkomplexe sind im ÖAAB in den vergangenen Jahren eingehend diskutiert und untersucht worden. Es liegen nunmehr zu beiden Themen Gesetzentwürfe vor, die nun auf den Weg der innerparteilichen Meinungsbildung geschickt werden. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß der ÖAAB in Zukunft mit allen Mitteln der innerparteilichen Demokratie dafür arbeiten wird, daß sozialpolitische Initiativen zu Gesamtanliegen der Partei werden. Die Glaubwürdigkeit des ÖAAB, und damit der Gesamtpartei, wird nicht nur von neuen Initiativen, sondern auch vom Realisierungsgrad abhängen. Auch davon werden die Chancen der ÖVP, in einer Dienstnehmergesellschaft wieder Mehrheitspartei zu werden, entscheidend bestimmt werden.

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