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Digital In Arbeit

„Grapschen": Am Arbeitplatz: nein - in der Schule: ja?

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Mit großem öffentlichen Aufwand ist in diesen Tagen einer weitverbreiteten Unsitte, nämlich der Mißachtung von Menschenwürde durch sexuelle Belästigung, der Kampf angesagt worden. Wer weiß, welche verbalen Widerlichkeiten sich Frauen heute sagen lassen müssen, wer weiß, welchen verletzenden Attacken sie am Arbeitsplatz manchmal ausgesetzt sind, welcher Instrumentalisierung sie in der Werbung unterworfen werden, der wird alles begrüßen, was der gegenseitigen Mißachtung von Mann und Frau Einhalt gebietet.

So weit so gut. Wer jedoch angesichts unserer schnellebigen Zeit, angesichts der häufig wechselnden Moden des Zeitgeistes in wendiger Anpassungsakrobatik sein Erinnerungsvermögen nicht dem politischen Opportunismus geopfert hat, dem wird jene noch vor wenigen Jahren ministeriell geförderte Sexualerziehung in den Sinn kommen. Wurde da nicht als didaktische Anweisung für die Schulen das „Grapschen" und Betasten des jeweils anderen Geschlechtspartners empfohlen, das heute berechtiger Weise als sexuelle Belastung geahndet wird?

Der kritische Beobachter wird sich mit Recht fragen, wie denn das zusammenpaßt. Da ist ein Ministerium, das alle Tabus, alle Einschränkung von Bedürfnissen als repressiv und autoritär diskriminierte. Da ist ein anderes, das das Entta-buisierte kriminalisieren will. Entweder man handelte beziehungsweise handelt unüberlegt, oder man war beziehungsweise ist bereit, um der Durchsetzung einer Ideologie willen die Folgen in Kauf zu nehmen, die man heute mit Strafen oder Strafandrohung zu verhindern sucht.

Der Zyniker könnte schließlich auf den Gedanken kommen, daß hier eine bestimmte List der Vernunft am Werke sei, wo das eine Ministerium jene Zustände schafft, mit deren Beseitigung das andere seine Notwendigkeit begründet.

Überhaupt bleibt die Frage, ob man dem Übel der Mißachtung der Würde der Frau, der Gefahr ihrer Instrumentalisierung nicht besser durch eine gute Erziehung beikommt, als durch Strafen. Aber gerade das hat man nicht gewollt. Auch hier wundert sich der Zeitgenosse über die dialektischen Sprünge so mancher Politik. Während in der Erziehung junger Menschen immer noch deren willkürlicher Bedürfnisbefriedigung das Wort geredet wird, alle Einschränkung und Disziplinierung - etwa auch des Denkens und Redens - verpönt ist, wird das Ausleben von Gefühlen und Bedürfnissen am Arbeitsplatz mit Strafen belegt.

Und so fragt sich der kritische Beobachter, wie kann in der Schule das als fortschrittlich ausgegeben werden, was im späteren Leben als verwerflich gilt. Es kann doch nicht gewollt sein, daß eine sogenannte repressionsfreie Erziehung die Notwendigkeit einer repressiven Gesellschaft zur Folge hat.

Wo solche Widersprüche nicht aufgearbeitet werden, gerät die Schule in eine ausweglose Situation. Wenn Politik glaubwürdig sein will, ist sie aufgefordert, jene Widersprüche aufzuklären, oder sie mißachtet den denkenden, kritischen, für eine lebendige Demokratie unverzichtbaren mündigen Bürger.

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