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Kranker ohne Thermometer
Der Juni 1974 ist ein heißer politischer Monat — Ländtags-wahl in Niederösterreich, die Wahl des Bundespräsidenten in Österreich. Der österreichische Verbraucherpreisindex gilt allgemein als Indikator der wirtschaftspolitischen Leistungsfähigkeit einer Bundesregierung. Just im politisch so heißen Monat Juni hätte er die psychologisch so gefährliche 10-Prozent-Marke überschritten. Dies geschah nicht, weil er manipuliert wurde.
Der Juni 1974 ist ein heißer politischer Monat — Ländtags-wahl in Niederösterreich, die Wahl des Bundespräsidenten in Österreich. Der österreichische Verbraucherpreisindex gilt allgemein als Indikator der wirtschaftspolitischen Leistungsfähigkeit einer Bundesregierung. Just im politisch so heißen Monat Juni hätte er die psychologisch so gefährliche 10-Prozent-Marke überschritten. Dies geschah nicht, weil er manipuliert wurde.
Im “Warenkorb, mit rund 250 Gütern ausgestattet, werden in der Gruppe „Körper- und Gesundheitspflege“ als Punkt 19 die „Spitalskosten, Tagsatz II. Klasse“ erfaßt. Geradeso wie bei anderen Warengruppen eine bestimmte Ware stellvertretend für andere gleichartige Produkte steht — der Volkswagen beispielsweise für die Personenkraftwagen —, so werden für die Spitalskosten nur die Kosten der Wiener Spitäler in der Inflations-Wer-tung erfaßt. Gebührenänderungen für andere Spitäler sind für den Preisindex irrelevant. Nun wurden in diesem Jahr die Spitalskosten bei allen Spitälern im Bundesgebiet erhöht; für Wien geschah das per 1. Mai 1974. Dies hätte eine Index-Erhöhung um 0,6 Prozent bedeutet. Damit wäre im politisch so heißen Monat Juni eine Mai-Teuerungsrate von 10,2 Prozent bekannt geworden.
In dieser Situation griff Bundes-
kanzler Kreisky als Preisschreck ein. Er befahl seinem „Kronprinz“ in Wien, Bürgermeister Gratz, die Spitalsgebührenerhöhung auf den 1. September zu verschieben. Da die Spitalskostenerhöhung in allen anderen Bundesländern nicht indexrelevant ist, folgerte aus Kreiskys Preiseingriff eine wundersame Ver-
braucherpreisindex-Verrninderung auf „nur“ 9,6 Prozent, Das österreichische Statistische Zentralamt mußte diese politische Spielerei mitmachen; nicht nur das, es mußte auch vor dem Tag der niederöster-reichisohen Landtagswahl den Verbraucherpreisindex veröffentlichen. Unter seriösen politischen Bedingungen geschieht dies nicht vor dem zehnten Tag eines jeden Monats.
Das Ergebnis der niederösterreichischen Landtagswahl hat gezeigt, daß die Bevölkerung solchen Manipulationen nicht auf dem Leim geht.
Das ist freilich eine politische Frage und steht daher nicht in un-
mittelbarem Zusammenhang mit der Frage nach der Gültigkeit des Verbraucherpreisindex, der schließlich für Spar- und Kreditverträge, für Mietverträge und für die Lohnpolitik große Bedeutung hat. Manipulationen des Verbraucherpreisindex sind ein geeignetes Mittel, das Vertrauen der Bevölkerung in offiziell veröffentlichte ökonomische Daten ebenso wie in die Glaubwürdigkeit einer Bundesregierung und des politischen Systems schlechthin zu untergraben. Dieses Risiko ist Bundeskanzler Kreisky eingegangen.
Äußerst problematisch ist die Verbraucherpreis-Manipulation auch deshalb, weil just in dieser Zeit die Experten des Statistischen Zentralamts gemeinsam mit den Vertretern der Sozialpartner an der Aufstellung eines neuen Verbraucherpreisindex, der ab Anfang 1977 in Kraft treten soll, arbeiten. Derzeit läuft in Österreich eine Konsumerhebung, in deren Rahmen erstmals ein Gewichtungsschema mit universeller Waren-und Diens'tleistungsrepräsentation erarbeitet wird. Der neue Verbrau-oherpreisindex soll auch in Mittelstädten — von Amstetten bis Wolfsberg — erhoben werden und der Warenkorb soll künftig rund 360 Positionen umfassen. Ein Viertel der bisher im Warenkorb enthaltenen Positionen soll gegen neue ausge-
tauscht werden. Die mengenmäßigen Schwerpunkte dieser neuen Güter werden bei der Lebensmittelbranche, beim Hausrat und bei der Oberbekleidung, den Elektrowaren und den Tarifen liegen. Ferner soll auch die Mietenstatis'tik auf den Mikrozensus umgelegt werden. Der Gedanke eines „Studentenindex“ wurde verworfen, die Idee eines eigenen .Kinderindex“ ist noch nicht ausdiskutiert
Hinter der Ausarbeitung eines neuen Verbraucherpreisindex stecken sehr viel Arbeit und sehr viel Kosten. Doch welcher Effekt soll damit erzielt werden, wenn gleichzeitig die Bundesregierung demonstriert, mit welcher Leichtigkeit sie in der Lage ist, Objektive Wertmaßstäbe zu manipulieren, Indikatoren der Parteipolitik Untertan zu mar chen?
Die Inflation, wird immer wieder gesagt, zerrüttet das Vertrauen der Bevölkerung in ein bestimmtes Wirtschaftssystem und in die Trä-
ger dieses Systems. Die Bundesregierung glaubt offenbar, ihre Vertrauenswürdigkeit über die Distanz einer Legislaturperiode zu retten, indem sie die Meßgeräte einer inflationistischen Entwicklung außer Kraft setzt. Todkranken verheimlichen Ärzte oft das Ausmaß ihrer Leidens, Kranke verwerfen oft das Thermometer, das ihr Fieber mißt. In eine ähnliche Situation scheint die Regierung geraten zu sein. Offenbar glaubt sie, auf objektive Meßgeräte ihres wirtschaftspolitischen Leistungsvermögens verzichten zu können.
Da in Demokratien Regierungen kommen und gehen, sollte1 das gar nicht weiter stören, wenn damit nicht gleichzeitig für eine weitere Zukunft die Vertrauensbasis der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit demokratischer Repräsentationsformen abgegraben würde. Denn genau darauf läuft die Manipulation des Verbraucherpreisindex hinaus.
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