6801948-1971_39_04.jpg
Digital In Arbeit

Kritische Kraft

Werbung
Werbung
Werbung

Zum erstenmal fand diese Woche ein Bundeskongreß des österreichischen Gewerkschaftsbundes in jener Situation, in welcher die Sozialistische Partei alle Regierungsmitglieder stellt, statt. Zudem fiel dieser ÖGB- Kongreß mitten in die Phase eines eher gemütlichen Wahlkampfes. Wer nun aber geglaubt hat, daß dies den ÖGB-Präsidenten und SPÖ-Parla- mentarier Benya hätte hindern können, auch Kritik an Kreiskys Team zu üben und gewerkschaftsspezifl- sche Vorschläge zur Regierungsarbeit vorzutragen, wurde überrascht. Noch ehe der ÖGB-Kongreß begann, vertrat Benya in der Öffentlichkeit recht hartnäckig die Ansicht, die Regierung müsse im kommenden Jahr die Lohnsteuerprogression auf jeden Fall mildem, sonst wäre der Gewerkschaftsbund gezwungen, bei den Lohnverhandlungen noch höhere Zuschläge als ursprünglich beabsichtigt war, zu verlangen und durchzusetzen. Finanzminister Dr. Androsch widersetzte sich dieser Forderung so lange vehement, als sich Dr. Kreisky jeder Stellungnahme enthielt.

Es ist zu vermuten, daß ÖGB-Präsident Benya einerseits unter dein Druck der Vernunft, anderseits unter dem Druck maßgeblicher Gewerkschaftsfunktionäre zur „kleinen“ Offensive gegen die sozialistische Regierung angetreten ist. Die Vernunft ließ ihn spüren, daß bei der derzeitigen Ungewißheit über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des nächsten Jahres zu hohe Lohnforderungen nicht angebracht sind. Der Druck aus dem eigenen Lager ließ ihn wiederum fühlen, daß die Verbitterung der Arbeitnehmer über die von der sozialistischen Regierung zu verantwortenden Preissteigerungen groß genug ist, daß etwas geschehen muß, was zumindest den

Anschein einer Abgeltung hat und den Gewerkschaftsbund zudem als eine regierungskritische Kraft der Arbeitnehmer ausweisen würde.

Angesichts der Unsicherheit über die konjunkturelle Entwicklung können Orientierungsdaten über das preispolitisch unbedenkliche Ausmaß von Lohnerhöhungen auf seriöser Grundlage kaum gegeben werden. Es liegt nahe — wie regelmäßig in der Vergangenheit —, zunächst die Zunahme der Produktivität je Erwerbstätigenstunde zum Maßstab gesamtwirtschaftlich unbedenklicher Lohnerhöhungen zu nehmen. Danach würden die Löhne im Jahre 1972 um etwa 4 Prozent durchschnittlich ansteigen können, ohne die Stabilität des Preisniveaus zu beeinträchtigen. Es hat sich ferner eingebürgert — Lohnsteigerungen mit dem Ausmaß des zwischenzeitlichen Anstiegs der Lebenshaltungskosten (laut Verbraucherpreisindex) und einer unabwendbaren künftigen Steigerung der Lebenshaltungskosten (die binnen- und außenwirtschaftlich motiviert ist), im Rahmen der Lohnverhandlungen festzusetzen. Wollte man die genannten drei ökonomischen Größen bei den kommenden Lohnverhandlungen berücksichtigen, so ergäbe dies eine durchschnittliche Erhöhung der Löhne um 12 bis 14 Prozent.

Nun weiß ÖGB-Präsident Benya recht genau, daß eine Erhöhung des Lohnniveaus in diesem Ausmaß im Jahre 1972 trotz der zu erwartenden weiteren Abkühlung der Konjunktur sicherlich unmittelbar zu einem weiteren Anstieg des Preisniveaus beitragen würde. Dadurch würde sich das für Regierung und Gewerkschaftsbund politisch und wirtschaftlich gleichermaßen schwierige Inflationsproblem im kommenden Jahr vor allem von der Kostenseite aus weiter verschärfen. Der mögliche Ausgang dieser Politik wäre eine weitgehend unkontrolliert rotierende Lohn-Preis-Spirale, woran niemandem gelegen sein kann.

Eine Milderung der Lohnsteuerprogression ist aus stabilitätspolitischen Gründen ebenfalls nicht unbedenklich. Hiebei ist zu berücksichtigen, daß der Finanzminister im kommenden Jahr infolge der zu erwartenden weiteren Konjunkturabflachung ohnedies mit geringeren Einnahmen aus der Einkommensteuer zu rechnen hat Würde der Finanzminister nun, wie von ÖGB-Präsident Benya verlangt wird, die Steuerbemessungs grundlage anheben, so bedeutete das darüberhinaus einen weiteren Verzicht des Finanzministers auf Steuereinnahmen. Finanzminister Doktor Androsch, der sich als stabilitätsbewußter Administrator empfindet möchte nun, wie er schon in einigen Interviews zum Budget 1972 zu erkennen gegeben hat, nun auf keinen Fall die 10-Milliarden-Schilling- Budgetdeflzitgrenze überschreiten, ein Unterfangen, das ihm durch die geforderte Progressionsmilderung sehr wesentlich erschwert würde.

Dies also ist die Situation: Benya würde eine „normale“ Lohnrunde, also einen Anstieg des Lohnniveaus in der Höhe von etwa 8 Prozent, nur dann akzeptieren, wenn er auch eine Milderung der Lohnsteuerprogression verbindlich z.igesagt erhielte.

Wie die Dinge liegen, dürfte sich Benya (bzw. der Gewerkschaftsbund) gegen den konservativen Finanzminister Dr. Androsch durchgesetzt haben. Beim aktuellen Stand der Informationen über die ungewisse wirtschaftliche Zukunft des nächsten Jahres dürfte sich damit aber nicht nur die Macht der gewerkschaftlichen Organisation, sondern unter der Bedingung einer eher zurückhaltenden Lohnforderungswelle auch die größere wirtschaftliche Vernunft durchgesetzt haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung