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Kunst und Wirklichkeit

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Das 18. Kunstgespräch der Galerie nächst St. Stephan beschäftigte sich mit der vor allem durch die documenta 5 angeheizten Fragestellung „Realismus und Realität“. Außerdem gibt es in der BRD und in den USA eine starke Tendenz des Neorealismus und Neoverismus. So stellen sich etwa folgende Fragen:

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Das 18. Kunstgespräch der Galerie nächst St. Stephan beschäftigte sich mit der vor allem durch die documenta 5 angeheizten Fragestellung „Realismus und Realität“. Außerdem gibt es in der BRD und in den USA eine starke Tendenz des Neorealismus und Neoverismus. So stellen sich etwa folgende Fragen:

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1. Ist Kunst Täuschung, Illusion, Utopie, ja Verführung? Hat sie die Absicht, durch die Erzeugung ästhetischer Gebilde den Menschen vom Bewußtsein seiner leidvollen Existenz abzuziehen und die Verbesserung der gesellschaftlichen Notstände ad acta zu legen? Hat sie die Absicht, eine schöne, heile Welt vorzutäuschen und damit ein Opium zu schaffen, das die harten Fragen der persönlichen und gesellschaftlichen Realität zu süßem Schweigen bringt? Ist Kunst ein Versuch der Blockierung des Menschen mit ästhetischen Genüssen, der Abhaltung vom Eingriff in die soziale Wirklichkeit und damit ein Instrument des Klassenkampfes von oben, der eben herrschenden Klasse und Herrschaftsschichte? Heute, angesichts des Massenkonsums von Kunst, also bereits Opium des Volkes oder für das Volk?

2. Oder ist Kunst ein Instrument des Klassenkampfes von unten, hat sie die Aufgabe, sich politisch zu engagieren, die Welt des reinen Ästhe-tizismus zu verlassen, keine Weltbe-spiegelung, ja nicht einmal eine Diagnose von Zuständen zu sein, sondern den Hebel der Revolution in Bewegung zu setzen, der die Zustände real verändert? Bezieht Kunst ihren Realitäts-wert ausschließlich von solchem Charakter und solchen Vonhaben? Damit wäre das Glasperlenspiel zu Ende, damit auch der unverbindliche, sozusagen unethische Charakter von Kunst, das elitäre Sich-Zurückziehen in den berühmten oder schon berüchtigten elfenbeinernen Turm. Damit wäre Kunst den Notwendigkeiten und Nützlichkeiten des Lebens zugeordnet, könnte der Künstler endlich unmittelbar in den politischen Gang der Dinge eingreifen. Er würde nicht mehr als Clown am Rande der Gesellschaft stehen, ausgestattet zwar mit Narrenfreiheit, benutzt als Dekoration von Festivitäten, im Grunde aber ein nicht ganz Ernstgenommener; eine utopische Figur. Man hat den Eindruck, daß heute vielen dieser Künstler die Kunst zuwenig realistisch ist und daß sie diesen Realitätsschwund mit politischen Aktionen zu kompensieren trachten.

Was ist darauf zu sagen? Zunächst wohl, daß Kunst nicht die Aufgabe hat, Kopie zu sein, nicht der Natur, nicht des Lebens und seiner Zustände. Kunst mag durch all dieses angeregt und aufgeregt sein, kann aber glücklicherweise seit der Erfindung der Photographie dieser die praktisch geforderte Abbildung überlassen. Es bedarf nicht mehr der Lithographie oder des Stahlstiches, um optische Wirklichkeiten wiederzugeben. Kunst lebt nicht von äußerer, sondern von innerer Wirklichkeit, so wie die Lyrik gegenüber der Epik. Der Mensch ist selbst Realität genug. Wenn er sich (gewiß in Kontroverse mit den ihn umgebenden Realitäten) expliziert, hat das strikten Realitätscharakter, und Kunst ist Aussage und Offenbarung des Menschen und seiner inneren Vorgänge, seines Verständnisses von Welt und Schicksal. Kunst ist Interpretation im physischen Medium in konkreter Gestalt, eine Art „Philosophie des Konkreten“.

Kunst hat also Erkenntnischarakter, sie greift nicht unmittelbar ins Politische ein, es sei denn über Bewußtseinsänderungen. Kunst ist eine Realität sui generis. Sie bedarf auch zu ihrer moralischen Berechtigung keiner Legitimation durch außerhalb ihrer selbst liegende Ziele. Gewiß, es besteht kein Hindernis, daß Kunst kultischen Zwecken dient, kein Hindernis, daß sie politische Aufträge erfüllt; diese Nebenfunktionen leistet sie gerne. Aber sie läßt sich nicht darauf festlegen, von dorther ihre Existenzberechtigung abzuleiten. Das Mittelalter verwendete die großen Fresken der Kathedralen als Biblia pauperum, Daumier schuf politische Karikaturen, Goya vor ihm protestierende Radierungen der Desastres de la guerra. Aber deshalb ist ein Bild von Mondrian oder Herbin nicht unrealistischer, weil es „abstrakt“ ist, es ist auch in keiner Weise unenigagiert und unverbindlich, es lügt nicht heile Welt vor, sondern erschafft sie.

Die Kunst ist eine Prophetie des eschatologischen Paradieses und damit hat sie dynamischen und realistischen Charakter. Sie darf auch nicht unter die sogenannte Natur versklavt werden. Wird sie auf Abbildung, auch auf interpretative, festgelegt, fesselt man ihre Freiheit der Gestaltung. Bild ist eben nicht nur Exegese und Diagnose, nicht nur Abbild, sondern freies Gebilde menschlicher Phantaise, absolutes kreatives Erzeugnis. Marxisten können das gewiß nicht ausstehen; sie verwenden

Kunst als Propagandamaterial und schreiben ihr zudem die „Wirklichkeiten“ vor, die sie zu liefern hat: Das vergnügliche Fest in der Kolchose, die tolle Arbeitsleistung des Stachanowisten, die Heldentaten der Roten Armee, die willige Erfüllung der Fünf-Jahres-Pläne. Daher auch die Schöpfung des „Sozialistischen Realismus“, einer Gebrauchs- und Sklavenkunst, die auf Auftrag arbeitet und auf Auftrag schweigt.

Kunst und Realität: Die Kunst ist Zeichen; sie verweist nicht nur auf naturhafte, soziale und geschichtliche Realitäten, sie verweist auf eine transzendente Realität und vermag deshalb — auch ohne Realismus — höchst realistisch zu sein.

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